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Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 9. Januar 1640 – Der Müller

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  Vor vier Tagen war in jener Nacht Schnee gefallen. Kein weiches, stilles Tuch, sondern scharfe, unregelmäßige Flocken, die sich zwischen den Pflastersteinen und in den Falten meines Mantels sammelten. Die Stadt roch nach Holzrauch und Eis. Man sprach nicht mehr laut vom Hunger, aber man fühlte ihn in allem: in den leeren Marktständen, den dürftigen Wintersuppen, den roten Nasen der Kinder mit ausgetretenen Schuhen. Es gab kein Mehl. Kaum Bier. Selbst die Ratten schienen ihre Löcher nicht mehr zu verlassen. Und dann brachte man Sigebert Meurer . Ein Müller. Kräftiger Mann, breit in den Schultern, mit Schwielen so hart wie Leder auf den Handflächen. Seine Mühle lag am Wasser bei der südlichen Stadtmauer, und man hatte seit Monaten gemunkelt, dass seine Säcke voller waren, als er zugab. Man sagte, er habe Korn versteckt, während andere ihre Kinder begraben mussten. Dass er Mehl an Soldaten außerhalb des Tores verkauft habe. Dass seine Frau neue Schuhe trug. Ich glaubte nichts oh...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 24. Dezember 1639 – Weihnachtsmahl

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 Der Schnee fiel leicht an jenem Abend — nicht wie eine Decke, sondern wie ein Schleier. Die Fenster beschlugen schon früh, und in der Straße hörte man das Getrappel von Menschen, die eilig ihre letzten Einkäufe machten. Im Haus brannte das Feuer hoch, und der Duft von Nelken, Zwiebeln und warmem Bier zog wie eine Wolke durch die Räume. Anna hatte den ganzen Tag in der Küche gestanden. Kein Klagen, kein Seufzen — ihre Bewegungen waren fließend, wie in einem Ritual, das sie ihr ganzes Leben lang kannte. Sie sang leise, während sie die Blutwurst schnitt, den Brei rührte, das Fett schmelzen ließ. Ihre Schürze war voller Mehl und Dampf, ihre Wangen glühten von Hitze und Arbeit. Auf dem Tisch standen drei Schüsseln: Blutwurst mit Zwiebeln — dunkel und herzhaft. Graupenbrei mit Speckfett — salzig und schwer. Apfelklöße mit Nelken — süß, dampfend, würzig wie Erinnerung. In einem Steinkrug: warmes Bier mit Ei. Trüb, dick, aber tröstlich. Wir tranken es langsam, jeder Schluck ein Sch...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 11. November 1639 – Beim Gilde

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 Es war kalt auf dem Markt heute Morgen, scharf wie eine Klinge auf der Haut. Der Nebel lag wie ein Tuch über den Ständen, und die Luft roch nach Ruß und altem Speck. Am Eingang der Fleischhalle stand ein Mann mit einem Beutel unter dem Arm, offensichtlich auf dem Rückweg von einer Prüfung, den Kopf gesenkt, die Schultern hochgezogen. Man erwartete mich — nicht aus Höflichkeit, sondern aus Notwendigkeit. Das Fleischschätzer-Gilde hatte einen Boten geschickt. Kein offizieller Brief, kein Siegel, nur eine mündliche Botschaft: „Der Meister will Euch sprechen. Es ist etwas mit dem Fleisch aus Langelsheim.“ Der Ton war nicht feindselig, aber auch nicht einladend. In der Gildestube saß Gildemeister Cordt Bäumer mit zwei anderen Männern, Brüdern im Amt, rund geworden vom Fleisch, das sie prüften. Sie saßen am Kamin, dampfende Krüge vor sich, die Augen auf mich gerichtet, als schnitte ich bereits. „Die Ware aus Langelsheim stinkt“, sagte Bäumer schroff. „Zu viele Innereien, zu weni...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 10. August 1639 – Jahrmarkt

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 Die Stadt summt vor Geräusch. Über das Pflaster der Breiten Straße rollen Wagen mit Weinfässern und Ballen aus Leinen. Der Geruch von gesalzenem Fisch mischt sich mit dem von frischem Brot und dem Ruß der Fackeln. Kinder rennen zwischen den Ständen hindurch, zerren an Ärmeln, lachen, schreien. Überall Geräusche: Rasseln, Hufgetrappel, das Rufen der Händler, der Gesang eines Blinden mit einer Drehleier. Ich ging mit gemessenem Schritt vom Rosentor zum Markt, meine Lederschürze sauber, das Messer verstaut, aber sichtbar an meiner Seite. So verlangt es der Rat — sichtbar, aber nicht benutzt. Meine Aufgabe heute: Aufsicht über Ordnung, Waagen und Würste. Am Stand des Fischhändlers bei der Rammelsberger Gasse blieb ich kurz stehen. Der Hering war frisch, das Fass schwer. Ich nickte und ging weiter. Beim Käsewagen der Witwe Hohmann stand eine Schlange. Ich sah, wie sie die Messer sorgfältig abwischte und das Leinentuch ordentlich faltete. Eine Frau mit ihrem Sohn entfernte sich hastig...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 22. Oktober 1638 – Werkzeuge

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 Die Luft roch nach nassem Laub und Rost. Der Herbst hatte sich tief in die Pflastersteine von Goslar eingenistet. In der Stadt schwebte Nebel zwischen den Fachwerkhäusern, doch in meiner Werkstatt am Rande des Rosenbergs war es trocken. Ich hatte das Feuer angefacht und die Werkzeuge bereitgelegt. Heute war Wartungstag. Keine Aufträge, keine Vorladungen, keine Befehle des Rates – nur ich, die Stille und meine Geräte. Zuerst das Langschwert. Es lag auf seinem Brett, in mit Öl getränktes Leinen gewickelt. Ich löste die Tücher, nahm es mit beiden Händen auf. Es fühlte sich vertraut an, wie der Hammer in der Hand eines Zimmermanns. Die Balance war noch gut. Die Schneide glänzte, doch ich wusste, dass immer Raum für Verbesserung bleibt. Mit dem Wetzstein zog ich langsam, geduldig, in langen Zügen. Das Schwert ist für den gnädigen Tod – die reine Enthauptung, wenn das Recht es befiehlt. Kein Schwung, kein Chaos. Ein Schlag. Eine Stille. Dann das Radmesser. Kurz, gebogen, gemacht, um ...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 3. Mai 1638 – Feuer

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 Der Himmel über Goslar flimmerte vor Trockenheit. Es war noch früh im Mai, doch der Wind trug Staub und Rauch mit sich. Seit Wochen war kein Regen gefallen, und die Stadt war dürr wie Pergament. Die Straßen hallten hohl unter meinen Stiefeln, als wollten selbst die Steine fliehen vor dem, was heute geschehen sollte. Gese Schraders. Vierzig Jahre alt. Tochter eines Webers, Witwe eines Brauers. Sie wohnte an der Gose, nahe der Brücke, in einem Haus, das nach Kräutern und Hefe roch. Ihr Name wehte schon lange durch das Flüstern der Stadt. Man sagte, Kühe würden lahm, wenn sie sie ansehe, Kinder bekämen Fieber, wenn sie deren Stirn salbte, und sie spreche bei Nacht mit Katzen. Ich hatte sie manchmal auf dem Markt gesehen, gebeugt, mit einem Korb voll Leinen am Arm. Keine Frau, die sich in Gespräche mischte. Keine Frau, die lachte. Ihre Verhaftung kam nicht überraschend. In den Kirchenbänken hörte ich ihren Namen seit Lichtmess flüstern. Als das Kind des Ratsmanns Witte an Krämpfen st...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 24. April 1638 – Die Hinrichtung – Zehn Körper, ein Feuer

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 Die Luft roch nach Lauge und Asche. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als ich mich ankleidete: der schwarze Rock, die Lederschürze, der Kragen aus grobem Leinen. Meine Frau Anna sagte nichts. Sie saß am Tisch mit gefalteten Händen, als bete sie. Doch ihre Augen waren trocken. Sie wusste, was heute war. Die Stadt schlief noch. Ich nicht. Die Knechte hatten die Nacht über auf dem Hochgericht gearbeitet, gleich außerhalb des Breiten Tors. Die Galgen waren gereinigt, der Scheiterhaufen aufgeschichtet, das Schwert geschliffen. Es gab zehn Verurteilte. Acht Frauen. Zwei Männer. Ich hatte ihre Stimmen gehört. Ihre Knochen gehalten. Ihre Träume verbrannt. Und nun war der Moment gekommen. I. Die Ankunft Die Glocken läuteten dreimal. Die Menge versammelte sich, gehüllt in Wolle und Schweigen. Kinder saßen auf den Schultern ihrer Väter. Mütter flüsterten Psalmen in die Ohren ihrer Töchter. Es waren Prediger da. Ratsmitglieder. Und stumme Männer mit Feuer in den Augen – kein Au...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 23. April 1638 – Talke Rode – Die Magd mit dem Brandmal

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 Sie spuckte auf den Boden, noch bevor ich ein Wort gesagt hatte. Talke Rode, Schankmagd, dreiundzwanzig, rotes Haar, Zähne wie Perlen, doch ihre Seele – so hieß es – schwarz wie Kohle. Sie arbeitete im Zur goldenen Kanne – wo Männer tranken, tanzten und mit der lachten, die sie anlächelte. Und Talke lachte oft. Man sagte, ihre Haut sei „zu warm“. Dass Fleisch schrumpfe, wenn sie es berühre. Dass Männer nach einer Nacht mit ihr träumten – und Wochen später mit Geschwüren erwachten. Auf ihrer linken Hüfte – eine Narbe, kreisförmig, mit Linien wie Zweige. Ihrer Aussage nach: eine Ölwunde. Nach Meinung des Predigers: ein Hexenmal. Sie wurde in die Ulrichskapelle gebracht mit dem Blick einer, die das Ende schon kennt. Ich fragte: „Warum habt Ihr das Zeichen verborgen?“ Sie sagte: „Weil ihr nichts hören wollt – nur schreien.“ Ich ließ das Eisen bereitlegen. Zuerst die Daumenschraube – eine kurze Einleitung. Sie schloss die Augen, schrie aber nicht. „Ist das alles, Meister?...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 22. April 1638 – Ficke Steinhauer – Die Bettlerin mit dem Blut im Haar

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 Sie lag schon drei Tage in der Zelle unter dem Rathaus. Sie sprach mit der Wand. Sie biss in ihren eigenen Arm. Und als der Wächter ihr Essen brachte, schmierte sie sich den Brei ins Gesicht. Niemand wusste, woher sie kam. Ihr Name – Ficke Steinhauer – stand nur im Armenregister, als „armseliges Weib“ unter Aufsicht des Stadtpfarrers. Man fand sie am Ende der Mauerstraße, schreiend gegen einen Baum. Sie hatte Blut in ihrem Haar. Von wem, wusste niemand. Sie trug eine Hasenpfote an einer Schnur um den Hals, und in ihren Taschen waren Eierschalen, Knochenmehl und Asche. Der Pfarrer sagte: „Sie ist ein Gefäß der Dämonie. Der Teufel sucht schwache Gefäße.“ Der Rat sagte: „Wenn selbst ihr Wahnsinn voller Gräuel ist, genügt das.“ Ich holte sie selbst aus der Zelle. Sie lachte, als sie mich sah. „Du hast Augen aus Eisen“, sagte sie. „Sie werden brennen, weißt du das?“ Ich führte sie in die Ulrichskapelle. Sie ging hüpfend, wie ein Kind. Ich legte sie auf die Bank. Sie wehrte...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 21. April 1638 – Else Branning – Die Wäschermagd mit den schwarzen Händen

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 Man holte sie, während sie arbeitete, am Fluss südlich der Stadt. Ihre Arme waren voller Schaum, die Schürze durchnässt, das Haar zu einem nassen Knoten auf dem Kopf gewunden. Sie wehrte sich nicht – sie sah nur auf den Schaum, als vertraue er ihr mehr als die Männer, die sie umringten. Else Branning, achtzehn Jahre alt. Tochter eines Zimmermanns, Waise seit ihrem zwölften Jahr. Arbeitete für den Wirt des Zum Goldenen Adler . Wohnte bei ihrer Tante, die sagte: „Sie redet mit sich selbst. Und manchmal mit dem Wind.“ Man sagte, ihre Hände seien niemals sauber, selbst nach Stunden des Waschens. Dass sie im Schlaf lache. Dass sie Dinge wisse, bevor sie geschähen. Der Prediger sprach: „Sie hat die Gabe des Wissens. Und wer weiß ohne Schrift, der spricht mit dem Teufel.“ Sie wurde in die Ulrichskapelle gebracht, noch triefend. Sie zitterte nicht vor Kälte, sondern vor Scham. Ihre Augen waren groß, mit Wimpern wie Kämme. Sie sah mich an, als wüsste sie, wer ich war – von innen. Ic...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 20. April 1638 – Margarete Wende – Die Witwe mit den Zähnen aus Asche

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 Der Himmel über Goslar war bleigrau, schwer und drückend. Kein Regen, aber das Versprechen eines Gewitters. Die Straßen rochen nach Mist, altem Bier und dem Rauch der Gerberei in der Marktstraße. Margarete Wende war die Älteste von allen. Zweiundsechzig Jahre, Witwe eines Landsknechts, der vor zwanzig Jahren in Böhmen verschwunden war. Seitdem lebte sie allein in einem schiefen Häuschen am Ende des Köppelsbleekwegs. Man sah sie selten am Sonntag, und noch seltener an Festtagen. Sie backte ihr eigenes Brot, zog ihre eigenen Zwiebeln und sprach mit niemandem. Bis ein Mädchen rief: „Die alte Wende flüstert mit Knochen!“ Und der Zimmermann bei ihrer Scheune einen Sack verbrannter Zähne fand. Sie sagte, es seien Schweinezähne gewesen. Der Pfarrer sagte: „Da waren Kinderzähne dabei.“ Der Rat brauchte nichts Weiteres zu hören. Sie wurde in die Kapelle gebracht – gebeugt, aber nicht gebrochen. Ihr Haar wie Spinnweben unter der Kapuze. Ihre Augen klein, scharf. Ihr Mund wie eine g...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 19. April 1638 – Hans Schermer – Die Klaue des Teufels

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 Er kam mit Schlamm an den Stiefeln, selbst nach vier Tagen im Keller. Hans Schermer, Stallknecht im Wirtshaus Zur wilden Ente , 26 Jahre alt. Breit in den Schultern, mit Händen wie Hämmer und einem Blick, der sich nicht beugen ließ. Man fand ihn schlafend im Heu neben einer verendeten Stute. Sein Wirt behauptete, er habe sie vergiftet. Der Pfarrer sagte, er habe mit den Fäusten an die Kirchentür geschlagen und „Beschwörungen im Schlaf gemurmelt“. Ich kannte seine Art: zu stark, um schwach zu sein, zu stolz, um sich zu beugen. Aber alles bricht – am Ende. Als er vor mir in der Ulrichskapelle stand, sagte er: „Ihr habt ein eisernes Rad, ja? Dann bringt es nur.“ Ich antwortete: „Nicht für den, der selbst darum bittet.“ Aber ich ließ es dennoch holen. Wir begannen mit der Handschraube. Seine Finger krümmten sich langsam. Zuerst biss er auf die Zähne. Dann auf die Zunge. Dann begann er zu fluchen. Nicht gegen Gott. Nicht gegen mich. Gegen das Pferd. „Das Tier sah mich an, al...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 18. April 1638 – Catrin Meyers – Der Geruch ihrer Mutter

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 Sie zitterte, als sie hereingebracht wurde. Nicht vor Kälte – der Morgen war mild –, sondern von innen heraus, wie ein Ast, der unter Spannung steht. Ihr Name stand seit drei Tagen auf der Liste, und heute war sie an der Reihe. Catrin Meyers, zwanzig Jahre alt, Tochter eines Webers, ohne Mann, ohne Kinder. Sie lebte mit ihrer Mutter am Rand des Viertels beim Zwinger. Ein Mädchen, das gern sang. Das Kräuter am Fenster trocknete. Das die Katze der Nachbarn streichelte und manchmal Blumen vom Kirchhof stahl. Eines der Kinder hatte sie in der Dämmerung bei der Pfarrei gesehen. Sie hatte bei einem Stein gesungen. Das war alles. Der Rat sagte: „Beunruhigend.“ Der Prediger sagte: „Verführerin junger Geister.“ Ich sagte: „Bringt sie.“ Sie stand kaum auf den Beinen. Ihre Knöchel gaben nach, als sie die Ulrichskapelle betrat. Ihre Hände zitterten. Ihre Augen waren rot. Ich fragte sie: „Wusstest du, was man über dich sagt?“ Sie nickte. „Meine Mutter weint. Aber sie weiß, dass ich n...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 17. April 1638 – Catrin Baumanns – Der Wassertraum

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 In der Nacht zuvor hatte ich von Wasser geträumt. Nicht von einem Bach oder einer Pfütze – sondern von einem Strudel, tief und dunkel, aus dem Stimmen aufstiegen wie Blasen. Es war kein Traum vom Tod. Sondern von etwas, das noch unter der Haut lebte. Als ich erwachte, wusste ich, dass es ihr Tag war. Catrin Baumanns, Näherin, Tochter eines Gerbers, unverheiratet. Sie wohnte in einer Kammer über den Ställen des Klosterviertels. Jemand hatte gesagt, sie mische Kräuter in Wein. Ein anderer, dass ihre Augen nicht blinzelten, wenn man das Vaterunser sprach. Ihre Nichte hatte gesagt: „Sie wäscht ihr Haar im Vollmond.“ Und das genügte. Der Rat befahl eine Wasserprobe. Sie stand aufrecht, als wir sie holten. Nicht aufrecht im Leib – ihre Schulter war eingefallen – aber aufrecht im Geist. Ich sah es sofort. Sie sah mich an, als ich sie fesselte. „Ich werde nichts sagen.“ Ich fragte: „Warum nicht?“ „Weil du es schon entschieden hast.“ Der Kahnteich lag unter grauem Himmel. Kei...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 16. April 1638 – Losie Slingsman – Die Laterne in seinem Auge

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  Er stammte nicht aus Goslar. Er kam von draußen, und das genügte schon. Losie Slingsman, Kesselflicker und Krämer, mit einem Mund wie ein Messer. Niemand kannte seine Herkunft. Er schlief in der Scheune des Jägers nahe beim Zwinger und sprach mit einem Akzent aus dem Norden — Holstein vielleicht, oder schlimmer. Man sagte, er lache mit Frauen, trete Katzen und höre Gesang, wo keiner war. Man fand bei ihm: – ein Messer mit seltsamen Zeichen – ein Ledersäckchen mit Haaren – ein kleines, in Leinen gewickeltes Knochenstück Der Pastor sprach: „Klar. Ein Diener des Teufels.“ Und der Rat sagte: „Er wird reden.“ Als man ihn hereinbrachte, spuckte er auf den Boden. „Wer von euch ist der Henker?“ Ich trat vor. „Ich bin der Scharfrichter.“ Er lachte. Ein hässliches Lachen. „Gut. Dann können wir von Mann zu Mann reden.“ Ich band ihn an das Schandrad. Er fluchte in drei Sprachen. Er sang eine Obszönität über die Heilige Jungfrau. Ich gab das Zeichen. Zuerst die Daumen. D...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 15. April 1638 – Cathrin Hasenbein – Die Glocke des Stadtdieners

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 Der Morgen begann in Stille. Keine Glocke läutete, keine Marktstimme hallte zwischen den Mauern. Nur das Krächzen eines Raben über dem Rosenbergtal und das Tropfen des Regens auf die Steine vor der Ulrichskapelle. Es war, als hielte die Stadt den Atem an vor dem, was kommen sollte. Cathrin Hasenbein, die Frau des Jakob Hasenbein, Stadtdiener des südlichen Wachthauses, wurde kurz nach dem Morgengebet gebracht. Zwei Knechte stützten ihre Unterarme – sie hatte in der Nacht die Nahrung verweigert. Sie war alt, aber nicht gebrochen, mit tiefen Furchen um den Mund, wie Schnitte von etwas, das sich nach innen gefressen hatte. Ihr Haar war grau, offen. Die Schürze befleckt mit geronnenem Blut – wessen, wusste ich nicht. Vielleicht ihr eigenes. Die Anklage: „Beim Abendmahl gespottet.“ „Seltsame Worte während der Prozession gemurmelt.“ „Ihr Mann fand einen Katzenschwanz unter dem Bett.“ Der Pfarrer hatte es deutlich gesagt: „Sie schaut nicht auf das Kreuz. Sie schaut hindurch.“ Als ic...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 14. April 1638 – Anna Middendorf – Die Hände der Witwe

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 Der Regen schlug unaufhörlich gegen die Fenster der Ulrichskapelle. Der Himmel über Goslar hatte jenes fahle Grau, das man nur sieht, wenn der Frühling sich weigert, zu kommen. Meine Hände waren trocken von der Asche, die ich am frühen Morgen aus der Schmiede geholt hatte. Der Ofen für das Eisen hatte stundenlang gebrannt – das Urteil war längst geschrieben, noch bevor der Schmerz begann. Anna Middendorf, die Witwe des Thomas Schrader, wurde als Erste hereingebracht. Sie taumelte die Treppe hinunter, gehalten von zwei Wachen. Ihre linke Hand war verbunden – eine Wunde aus früheren Verhören. Sie war seit März eingesperrt. Die Luft um sie herum roch nach Schimmel, Urin und Eisen. Ihre Augen waren stumpf. Nicht gebrochen, aber fern. Die Anklage: „Ein Kind bei der Geburt entstellt.“ „Mit einer toten Henne im Nebel gesehen.“ „Ehefrau eines Mannes, der einst mit einer Hexe Handel trieb.“ Der Pastor hatte sie eine Teufelsmutter genannt. Die Nachbarin sagte, Anna sei immer zu still...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: 4. April 1638 – Hans Christoph

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 Heute haben wir unseren Sohn verloren. Anna hat ihn unter großen Mühen getragen, neun lange Monate. Es war eine Schwangerschaft voller fiebriger Tage und gebrochener Nächte. Ihr Appetit verließ sie oft; häufig lag sie erschöpft auf dem Ruhebett unter dem Fenster, die Hand auf dem Bauch, den Atem schwer. Die Hebamme kam öfter als sonst, brachte ihr Tee aus Fenchel und Kamille, doch nichts konnte den Körper meiner Frau von der Qual befreien, die er trug. Wir gaben ihm schon vor der Geburt seinen Namen: Hans Christoph. Hans nach einem Onkel, Christoph nach meinem Schwager. Ein kräftiger Name. Ein Name, auf dem man bauen kann. Auch die Kinder – Hans Caspar, Wilhelm und die kleine Anna Maria – sprachen schon von ihrem neuen Brüderchen. Sie legten Leinentücher in die Truhe, zeichneten mit den Fingern Figuren auf die Stoffe, sangen am Herd Lieder von Wiege und Wiegenlied. Es war Hoffnung im Haus, und Erwartung. Doch als der Tag der Geburt kam, gab es nur Schmerz. In den frühen Morgen...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 9. Oktober 1637 – Das Feuer für Anna

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 Sie wurde an einem Montag verurteilt. Regen fiel senkrecht aus einem trostlosen Himmel, als könne die Stadt selbst keinen Atem mehr holen. Der Kleine Rat versammelte sich im Rathaussaal über der Marktstraße. Die Fenster waren beschlagen, die Kerzen brannten träge. Man rief mich nicht – das geschieht selten – doch das Gerücht eilte schon durch die Gänge des Rathauses, ehe das Siegel gedrückt war. „Anna Ilsabe Flörke, der Verkehr mit dem Teufel, gotteslästerliche Träume, der Gebrauch giftiger Kräuter und die Verführung Unschuldiger nachgewiesen, soll mit dem Schwert hingerichtet und ihr Leib auf dem Hochgericht verbrannt werden.“ Das Urteil kam schnell. Sie hatte Namen genannt, genug, um die Räder in Bewegung zu halten. Der Prediger hatte erklärt, sie befinde sich „in der Gewalt der Finsternis“, doch ihr Leiden sei von wahrer Bereitwilligkeit gewesen. Ich wusste, was er meinte. Ihr Schweigen war kein Widerstand gewesen, sondern Hingabe. Doch niemand sah darin Buße. Man suchte kein...