Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 15. April 1638 – Cathrin Hasenbein – Die Glocke des Stadtdieners

 Der Morgen begann in Stille. Keine Glocke läutete, keine Marktstimme hallte zwischen den Mauern. Nur das Krächzen eines Raben über dem Rosenbergtal und das Tropfen des Regens auf die Steine vor der Ulrichskapelle.

Es war, als hielte die Stadt den Atem an vor dem, was kommen sollte.

Cathrin Hasenbein, die Frau des Jakob Hasenbein, Stadtdiener des südlichen Wachthauses, wurde kurz nach dem Morgengebet gebracht. Zwei Knechte stützten ihre Unterarme – sie hatte in der Nacht die Nahrung verweigert.
Sie war alt, aber nicht gebrochen, mit tiefen Furchen um den Mund, wie Schnitte von etwas, das sich nach innen gefressen hatte. Ihr Haar war grau, offen. Die Schürze befleckt mit geronnenem Blut – wessen, wusste ich nicht. Vielleicht ihr eigenes.

Die Anklage:
„Beim Abendmahl gespottet.“
„Seltsame Worte während der Prozession gemurmelt.“
„Ihr Mann fand einen Katzenschwanz unter dem Bett.“

Der Pfarrer hatte es deutlich gesagt:
„Sie schaut nicht auf das Kreuz. Sie schaut hindurch.“

Als ich ihr die Folterbank zeigte, sagte sie nur:
„Jakob hat mich geliebt. Aber er hat Angst.“

Ich nickte. Angst ist die Wurzel von allem in dieser Stadt.

Ich band sie mit meinen eigenen Händen.
Die Streckbank.
Zuerst die Knöchel. Dann die Handgelenke.
Das Leder spannte sich wie eine Erinnerung an Gerechtigkeit.

Die erste Drehung – ein Knacken in der Hüfte.
Sie knurrte. Kein Schrei.
Die zweite Drehung – ein Aufschrei.
„Ich betete! Ich betete laut! Was sollte ich tun, als der Junge in meinen Armen starb?“
Ich schwieg. Ich drehte.
Die dritte Drehung – die Schultern begannen, sich in ihren Pfannen zu drehen.

Da brüllte sie:
„Ich habe niemandem geschadet! Nur mir selbst! Nur mir selbst!“

Der Theologe notierte:
„Unreine Sprache. Selbstmitleid.“

Ich gab das Zeichen für das Eisen.
Bastian reichte mir die Zange.
Ich setzte das glühende Eisen auf ihre Brust, direkt unter das Schlüsselbein.
Die Haut zischte. Sie schrie nicht mehr. Sie sang.
Ein halber Ton. Dann ein Ruck. Dann Stille.

Dann kam das Flüstern:
„Ich sah ihn. Den Bock. Er stand hinter dem Altar.“
Ich fragte:
„Was sagte er?“
„Er lachte.“

Ich schrieb:
Geständnis erlangt.

Später am Tag, während ich meine Hände in Salzwasser wusch, sagte der Pfarrer:
„Sie liegt nun in ihrer eigenen Dunkelheit.“
Ich sagte nichts. Aber ich dachte:
Oder in der unsrigen.

Bemerkung (Abend):
Jakob Hasenbein stand draußen vor der Kapelle, im Regen.
Er blickte auf das Portal, die Mütze in den Händen.
Er sah mich nicht.
Ich ging vorbei.
Ich hörte seinen Atem beben, als wolle er es hinausschreien.
Aber er schluckte es hinunter.
Und ich auch.




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