Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter von Goslar - Einleitung
Manchmal wird man von einem Namen in einem alten Dokument getroffen, von einer Schnörkel in einer Handschrift, von einem Datum mit einem Hauch von Blut. Für mich war das bei Caspar Kruse der Fall. Sein Name erscheint in Chroniken, Prozessakten und Kirchenbüchern des siebzehnten Jahrhunderts in Goslar – immer wieder verbunden mit Hinrichtungen, Folterungen und dunklen Aufgaben. Was als genealogische Suche nach meinen Vorfahren begann, wurde zu einer literarischen Reise in eine Zeit, in der Rechtsprechung rau war und das Böse manchmal eine amtliche Uniform trug.
Caspar Kruse III ist mein Vorfahre. Eine direkte Linie führt von ihm – Scharfrichter in Goslar von etwa 1630 bis 1682, im Niederländischen „Scherprechter“ genannt – über seinen Sohn Hans Christoph zu den Generationen von Kruses, die später in die Niederlande zogen, schließlich bis zu meinen eigenen Eltern. Ich bin, von ihm gerechnet, die elfte Generation. Sein Leben ist nicht bloß Familiengeschichte: Es ist ein Fenster in eine Welt, in der Recht, Glaube, Gewalt und Familie ineinandergriffen. Und in der ein Mann, belastet mit den schwersten Pflichten der Stadt, seinen Weg zwischen Gehorsam und Gewissensbissen finden musste.
Dies ist mein Versuch, Caspar wieder lebendig werden zu lassen. Nicht als Monster, nicht als Heiliger, sondern als Mensch. Ich gebe ihm eine Stimme – und durch diese Stimme will ich die Welt zeigen, in der er lebte: eine Welt von Pest und Krieg, von Hexenverfolgungen und religiösen Konflikten, von Armut und Angst, aber auch von alltäglichen Ritualen, väterlicher Liebe und innerem Zweifel.
Das Herz meines Romans bilden eine Reihe fiktiver Tagebuchaufzeichnungen, geschrieben in der Ich-Form von Caspar Kruse III. Jede dieser Aufzeichnungen stützt sich auf reale historische Daten, ist zugleich aber erfüllt von persönlicher Reflexion, Vorstellungskraft und thematischer Tiefe. Durch diese Form wird die Spannung zwischen Amt und Gewissen, Glaube und Zweifel, Familie und Einsamkeit lebendig.
Ich schreibe nicht, um Geschichte umzuschreiben. Ich schreibe, um einem Mann etwas zurückzugeben, der jahrhundertelang keine Stimme hatte. Caspar Kruse III, mein Vorfahre, lebt in Fußnoten, in Prozessakten, in einer Erwähnung am Galgen oder bei einer Wasserprobe. Aber er lebte auch wirklich – als Mann, als Vater, als Ehemann, als zweifelnder Diener des Gesetzes. Mit diesem Projekt möchte ich sein Leben rekonstruieren, oder besser gesagt: erinnern. Nicht als Biografie, sondern als menschliche Erzählung. Genau darum habe ich die Form eines historischen Romans mit Tagebuchnotizen gewählt: Sie ermöglicht es mir, sein Inneres zu zeigen, seine Zweifel, sein Alltagsleben – Dinge, die in Archiven kaum überliefert sind.
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Deutschland im 17. Jahrhundert: Krieg, Recht und Glaube
Das siebzehnte Jahrhundert war keine Zeit für Schwache. Im Heiligen Römischen Reich, das auf dem Papier aus Hunderten unabhängiger Fürstentümer, freier Städte und kirchlicher Territorien bestand, brach 1618 ein Krieg aus, der dreißig Jahre dauern sollte. Der Dreißigjährige Krieg begann als religiöser Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten, wurde aber bald zu einem Machtkampf zwischen europäischen Großmächten. Deutschland wurde zum Schlachtfeld Europas, und Millionen Menschen starben – durch das Schwert, durch Hunger oder durch die Pest.
In dieser Welt lebte Caspar Kruse. Seine Stadt Goslar, am Nordrand des Harzes gelegen, war eine freie Reichsstadt – formal unabhängig innerhalb des Reiches. Goslar war einst reich geworden durch die Silberminen des Rammelsbergs und hatte eine Rolle in der Hanse gespielt, doch um 1600 war ihr Glanz im Schwinden. Der Bergbau ging zurück, die Einnahmen sanken, und die Stadt wurde mehr und mehr zum Spielball zwischen protestantischen und katholischen Mächten. Goslar selbst blieb lutherisch, war aber von Fürstentümern mit anderen Interessen umgeben.
Die Bevölkerung Goslars schrumpfte – teils durch Krieg, teils durch Seuchen. Die Stadtväter mussten hohe Steuern erheben, um Truppen zu unterhalten oder sich von Plünderungen freizukaufen. Dennoch ging das Stadtleben weiter: Zünfte tagten, Märkte florierten, Kinder gingen zur Lateinschule. Doch das Leben war arm, hart, unsicher – und wer aus der Norm fiel, lebte gefährlich.
Die Rechtspraxis lag in den Händen lokaler Gerichte, war aber im „gemeinen Recht“ verankert, das auf der Constitutio Criminalis Carolina (1532), der Strafgesetzgebung Kaiser Karls V., beruhte. Darin waren die Verfahren für Folter, Beweisführung und Urteilsvollstreckung genau geregelt. Folter war erlaubt bei starkem Verdacht, und ein Geständnis – der „Königinnenbeweis“ – war Voraussetzung für ein Todesurteil. Es war eine Zeit der Gewalt mit Regeln, Rechtsprechung ohne Sicherheiten.
In dieser Welt bewegte sich Caspar Kruse – als junger Henker in Ausbildung, als Sohn eines Scharfrichters, als Enkel eines Mannes, der ebenfalls das Schwert führte. Er würde keine Heldentaten vollbringen, keinen Aufstand anführen, keine Gesetze schreiben. Aber in seinen Händen lag, an Hunderten von Tagen, das Leben anderer. Und das macht seine Geschichte erzählenswert.
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Goslar: Stadt des Silbers, der Galgen und des Gebets
Goslar war im siebzehnten Jahrhundert eine Stadt mit mittelalterlichem Gesicht: eine alte Kaiserpfalz, Stadtmauern, Wachtürme, Tore wie das Breite Tor und enge Gassen voller Fachwerkhäuser mit Schildern von Gerbern, Bäckern und Sattlern. Die Stadt lag geschützt am Nordhang des Harzes und lebte vom Silber des Rammelsbergs, das seit dem Mittelalter Goslars Reichtum bestimmte.
Das Zentrum bildeten der Marktplatz mit dem gotischen Rathaus, die Marktkirche und die Zunfthäuser. An Festtagen läuteten Glocken, Marktschreier boten ihre Waren an, und der Rat tagte in der Ratsstube. Neben der Kaiserpfalz lag die Ulrichskapelle – eine schlichte Kapelle, die im Laufe der Zeit zur Folterkammer umgestaltet worden war. Eisenringe saßen noch im Boden. Hier verhörte Caspar Kruse Gefangene im Auftrag des Rates. Manchmal hörte man nur das Zischen glühenden Eisens. Manchmal Schreie.
Der Henker durfte innerhalb der Mauern arbeiten, aber nicht leben. Deshalb wohnte Caspar mit seiner Familie am Rosenberg, am Rand des Rosentorviertels, gleich außerhalb des Tores. Das Haus steht noch heute: Reiseckenweg 4. Es lag an der Grenze zwischen bürgerlichem Dasein und sozialer Ausgrenzung: ein solides Fachwerkhaus mit Stall, Werkraum und einem Hof, in dem Kräuter für Salben und Heilmittel wuchsen. Die Kinder spielten am Bach, doch sie wussten: Ihr Vater tat etwas, worüber man nicht sprach.
Die Stadt hatte ihre eigene juristische Organisation. Der Große Rat und der Kleine Rat regierten Goslar und sprachen Recht. Der Rat stellte Urteile auf, ließ Juristen aus Helmstedt oder Leipzig Gutachten schreiben und vertraute schließlich dem Scharfrichter die Vollstreckung an. Die geltende Rechtsgrundlage war das gemeine Recht – vor allem die Carolina von 1532 –, in der stand, dass Folter erlaubt sei bei schwerem Verdacht. Geständnis galt als höchster Beweis und wurde meist mit Schmerzen erzwungen. Ein Henker ohne Gewissen diente schnell. Ein Henker mit Gewissen, wie Caspar Kruse, diente langsamer – und dachte noch Jahre danach darüber nach.
Neben seiner Arbeit als Scharfrichter leitete Caspar auch die Abdeckerei: den Ort, an dem Tierkadaver verarbeitet und begraben wurden. Die Arbeit stank, brachte aber Geld ein. In mehreren Dörfern und Städten um Goslar besaß Caspar Abdeckereien. Im benachbarten Seesen übernahm er 1667 zusammen mit seinen Söhnen Christoph, Wilhelm und Valentin den Betrieb. Die Abdeckerei in Goslar lag zunächst bei Caspars Haus, später beim Fillerbrunnen gegenüber dem Breiten Tor – am Rand der Stadt, wie er selbst am Rand der Gesellschaft. Doch sie gab Nahrung und Zukunft.
Goslar im siebzehnten Jahrhundert war eine Stadt der Handwerke und des Biers, der lutherischen Gesänge und der Galgen, des Silbers und der Schatten. In ihren Gassen rauschte die Vergangenheit, und an ihrem Rand arbeitete mein Vorfahre – ein Mann zwischen Leben und Tod, mit dem Schwert in der Hand und der Angst im Herzen.
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Das Amt des Scharfrichters: Recht und Abscheu
Ein Scharfrichter – wörtlich ein „Scharf-Richter“ – war mehr als ein Henker. Er war ein Gerichtsdiener mit formell anerkannter Rechtsstellung, vom Stadtrat oder Landesherrn ernannt. Seine Aufgaben gingen weit über die Vollstreckung von Todesstrafen hinaus. Der Scharfrichter stand buchstäblich und im übertragenen Sinn an der Grenze zwischen Recht und Tabu, zwischen Ordnung und Angst.
Zu seinen Hauptaufgaben gehörten:
- die Vollstreckung von Hinrichtungen: Enthauptungen mit dem Schwert, Hängungen, Räderungen und Verbrennungen;
- die Durchführung von Leibesstrafen wie Geißelungen, Abschneiden von Ohren oder Fingern, Brandmarkungen;
- die Anwendung von Foltermethoden: Daumenschrauben, Streckbank, Feuer, Wasserproben, Zangen – stets nach richterlichem Befehl;
- die Pflege der Werkzeuge des Rechts: Schwerter, Zangen, Seile, Schandpfahl;
- die Begleitung der Verurteilten zum Schafott oder Galgen, oft in Zusammenarbeit mit einem Prediger;
- die Beseitigung von Leichnamen am Galgenberg oder Schandplatz – eine Aufgabe, die sonst niemand übernehmen wollte;
- die Aufsicht auf dem Markt;
- die Aufsicht über die Prostitution;
- das Einsammeln der Abortfässer;
- medizinische Dienste als Wundarzt oder Pferdekundiger;
- die Verwaltung der Abdeckerei, häufig als Nebenerwerb: tote Tiere beseitigen, Häute verkaufen, Fett verarbeiten.
Der Scharfrichter durfte keinem Handwerksgilde beitreten, kein Sakrament empfangen und lebte meist sozial isoliert. Selbst seine Familie wurde oft gemieden. In Wirtshäusern saß er abseits. Auf Märkten durfte er als Aufseher auftreten, war dort jedoch nicht willkommen. Nur seine Arbeit sicherte ihm Daseinsrecht – geduldet, aber nicht geachtet.
Caspar Kruse III erbte das Amt von seinem Vater Caspar II, der es wiederum von Caspar I übernommen hatte. Er begann als junger Mann in einer Zeit von Krieg und religiöser Hysterie. Seine ersten Jahre waren von Züchtigungen und öffentlichen Leibesstrafen geprägt. Die großen Hexenprozesse sollten erst später folgen. In seinen Aufzeichnungen klagt er nicht über die Arbeit selbst, sondern über die Spuren, die sie in ihm hinterließ: Träume, zitternde Hände, der Geruch verbrannten Haares in seinen Kleidern.
Sein Arbeitsplatz war die Ulrichskapelle für Folterungen, das Hochgericht für Hinrichtungen und die Köppelsbleek für die Beseitigung von Leichen. Seine Werkzeuge waren scharf, seine Haltung beherrscht. Doch unter der Oberfläche wuchs etwas – Zweifel, Abscheu, ein allmähliches Zerbröckeln des Glaubens, dem er diente.
Und dennoch machte er weiter. Nicht aus Grausamkeit. Nicht aus Machtstreben. Sondern weil jemand es tun musste. Es war seine Arbeit. Und wenn er es nicht getan hätte, hätte es jemand ohne Gewissen getan.
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Caspar I und II: Großvater und Vater
Das Amt des Scharfrichters ging in der Familie Kruse von Vater auf Sohn über. Keine Berufung, sondern ein Erbe. Keine Ehre, sondern eine Überlebensstrategie. Die Geschichte von Caspar Kruse III ist nicht zu verstehen ohne seine Vorgänger: seinen Großvater Caspar Kruse I und seinen Vater Caspar Kruse II.
Caspar Kruse I
Der älteste bekannte Kruse in dieser Linie, Caspar I, arbeitete Mitte des 16. Jahrhunderts zunächst als Scharfrichter in Zittau, später in Görlitz. Sein Weggang aus Görlitz war umstritten: Überliefert ist ein Konflikt zwischen seiner Frau Catharina und der Frau des Bürgermeisters Hempel. Catharina wurde als „stehlende Hure“ beschimpft, was zu einem öffentlichen Eklat führte, der das Ansehen der Familie beschädigte.
Im September 1600 erhielt Caspar I eine neue Chance: Er wurde zum Scharfrichter von Goslar ernannt, als Nachfolger von Clauss Görteler. Er zog mit seiner Familie in die freie Reichsstadt, wo er bis zu seinem Tod 1606 tätig blieb. In diesen Jahren vollstreckte er Leibesstrafen, führte Hinrichtungen durch und legte den Grundstein für die Linie der Familie in der Stadt.
Caspar Kruse II
Nach dem Tod von Caspar I im Jahr 1606 übernahm sein Sohn Caspar II das Amt. Er wurde vom Rat der Stadt Goslar bestätigt.
Caspar II wirkte in einer Zeit zunehmender sozialer Spannungen, Geldentwertung, religiöser Unruhen und wachsender Hexenverfolgungen. Unter ihm ereigneten sich die ersten Verdachtsfälle, die später zu regelrechten Prozessen anwuchsen.
Caspar II starb 1630. Kurz darauf heiratete seine Witwe Hans Mosel, der das Amt jedoch nur drei Wochen innehatte. Schließlich war es Großmutter Catharina, die den Rat von Goslar überzeugte, ihren Enkel Caspar III – damals erst zwanzig Jahre alt – als neuen Scharfrichter einzusetzen.
Eine Blutlinie
Der Übergang vom Großvater zum Vater, und vom Vater zum Sohn, verlief nicht ohne Spannungen. In den Aufzeichnungen Caspars III heißt es, er habe den Großvater nur vom Hörensagen gekannt – „ein stiller, rauer Mann“ – und den Vater als „streng, schweigsam, aber gerecht“ in Erinnerung behalten. Über Gefühle wurde nicht gesprochen. Nicht über Reue. Nur über Aufgaben, Werkzeuge, Befehle.
Das Erbe von Caspar I und II war nicht nur ein Schwert und ein Amt, sondern auch eine Stille, eine Isolation, ein fortwährender Blick der Stadt, die sie duldete, aber nie akzeptierte.
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Caspar Kruse III: Charakterporträt
Caspar Kruse III ist der Mittelpunkt dieses Romans. Er ist die Stimme im Tagebuch, die Hand am Schwert, der Mann zwischen Gesetz und Gewissen. Sein Leben spielt in einer Zeit gesetzlich erlaubter Folter und religiösen Fanatismus, doch er selbst war kein Fanatiker. Er war ein Mann der Struktur, der Wiederholung, der Pflicht – und des Zweifels.
Charaktereigenschaften
Er war von Natur aus zurückhaltend. Er sprach wenig, beobachtete aber scharf. Er glaubte an Ordnung, jedoch nicht ohne Fragen. In jungen Jahren war er stolz auf das Amt, das er von seinem Vater geerbt hatte. Er wollte es gut ausführen – korrekt, sauber, ohne unnötige Grausamkeit. Seine Ideale waren nicht heldenhaft, sondern menschlich: Sorge für seine Familie, Achtung vor dem Gesetz, Ruhe im Kopf.
Caspar war nicht warm im Ausdruck, aber tief in seinem Gefühl. Seine Liebe zu seiner Frau Anna war still, getragen. Seine Fürsorge für seine Söhne zeigte sich in der Art, wie er sie unterwies: streng, aber nie ohne Ziel. Sein Schuldgefühl wuchs nicht aus Fehlern, sondern aus Gehorsam.
Inneres Ringen
Sein größter Konflikt spielte sich in seinem Inneren ab. Nach außen tat er, was man von ihm verlangte: er folterte, er enthauptete, er beseitigte Kadaver. Doch in seinem Tagebuch begann langsam eine andere Stimme zu sprechen. Eine Stimme, die fragte, ob das Recht noch gerecht war. Ob ein Geständnis unter Folter Wahrheit sein könne. Ob Gott wirklich das verlangte, was der Rat befahl.
Er zweifelte – am System, an sich selbst. Doch er funktionierte weiter. Das machte ihn zugleich tragisch und menschlich. Er war kein Revolutionär. Er legte das Schwert nicht nieder. Er gehorchte – und litt. Er schrieb, seine Hände zitterten nicht, aber seine Träume wurden tiefer. Träume, in denen die Gesichter der Verurteilten wiederkehrten. Träume, in denen er selbst auf dem Schafott stand.
Sein Verhältnis zum Tod
Caspar lebte mit dem Tod, aber suchte keinen Umgang mit ihm. Er betrachtete ihn als notwendig, als Grenze, die jemand bewachen musste. Seine Haltung war nüchtern, aber nicht kalt. Er unterschied zwischen Sünde und Irrtum, zwischen Verbrechen und Unglück. Doch er musste immer wieder dieselbe Handlung vollziehen: das Urteil vollstrecken. Den Tod bedienen. Er schrieb: „Meine Hand gehorcht. Mein Herz nicht immer.“
Religion
Caspar war ein gläubiger Mann. Er betete, besuchte die Kirche, las die Schrift. Doch sein Glaube war nicht tröstend. Er war streng, angespannt, ein Suchen nach Sinn in einer Welt voller Schmerz. Er verglich sich mit dem Hauptmann unterm Kreuz – bewaffnet, schauend, schweigend.
Er betete für die Verurteilten, auch wenn sie es selbst nicht taten. Manchmal legte er seine Hand auf ihre Schulter, bevor das Schwert fiel. Das war seine Form von Barmherzigkeit.
Fazit
Caspar Kruse III war kein Held, kein Schurke, kein Opfer. Er war ein Mann seiner Zeit – gefangen in seinem Amt, gezeichnet von seiner Arbeit, geprägt von seiner Herkunft. Sein Charakter bestand aus Stille, Pflicht und innerem Kampf. Gerade weil er nicht zerbrach, sondern langsam erodierte, ist seine Geschichte erzählenswert.
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Anna Kruse: Die stille Kraft
Hinter Caspar Kruse stand eine Frau, die in den Stadtakten selten genannt wurde, ohne die sein Leben aber undenkbar wäre: Anna Clages, seine Ehefrau. Sie heirateten 1630, vermutlich in Hannover, wo Anna herkam. Mit Caspar hatte sie mindestens zehn Kinder. Sie überlebte Kriegsjahre, Hungersnöte, soziale Ausgrenzung und das isolierte Leben einer Scharfrichterfamilie.
Herkunft und Familie
Anna stammte aus einer Familie mit Wurzeln in der Umgebung von Hannover. Ihre Schwester Ilke Klages heiratete einen anderen Scharfrichter, Marten Voigt, was auf eine gewisse familiäre oder berufliche Verbindung innerhalb des Henkergildes hinweist. Doch leichter machte dies ihr Leben nicht. Die Ehe mit Caspar brachte sie in ein Haus außerhalb der Stadtmauern, fern von der Kirchengemeinschaft, fern vom Markt, fern vom gewöhnlichen Stadtleben.
Dennoch war Anna keine Schattenfigur. In Caspars Tagebuchnotizen wird sie mit Respekt erwähnt, manchmal sogar mit Bewunderung. Er nannte sie sein „stilles Gewissen“ und seine „Stille nach dem Sturm“. Sie nahm nicht an seiner Arbeit teil, doch sie hörte sie, roch sie, sah die Folgen. Sie war es, die die Kinder ablenkte nach einer Hinrichtung. Sie wusch seine blutigen Hemden. Sie kannte seine Albträume.
Rolle in der Familie
Anna war das Zentrum des Haushalts. Sie unterrichtete die Kinder, beaufsichtigte das kleine Gut, sorgte für Nahrung, Kräuter, Kleidung. In Krankheitszeiten pflegte sie ihren Mann mit Aufgüssen aus Salbei, Beinwell und Hopfen. Sie lehrte ihre Töchter spinnen und ihre Söhne schweigen. Denn Schweigen war notwendig: Was Caspar sah und tat, durfte in der Stadt nicht besprochen werden.
Doch Caspars Tagebuch zeigt, dass er ihr dennoch alles anvertraute. Sie war seine Vertraute. Er schrieb ihre Worte auf, manchmal wörtlich, oft mit Wehmut. Ihr Glaube war tiefer als seiner, weniger gesetzlich, mehr verzeihend. Sie betete mit den Kindern, sang Psalmen, las aus Luthers Predigtsammlungen.
Moralischer Kompass
Im Laufe des Tagebuchs erhielt Anna eine immer wichtigere Rolle als moralisches Gegengewicht. Sie stellte Fragen. Sie fragte, ob das Mädchen im Kerker wirklich schuldig sei. Ob Caspar sicher sei, dass die Wasserprobe gerecht verlaufen sei. Sie sagte nicht, was er tun solle, aber sie schaute – und ihr Blick sagte oft mehr als tausend Worte.
In manchen Passagen scheint Anna sogar der Auslöser für Caspars größte Zweifel gewesen zu sein. Nicht durch Kritik, sondern durch ihre Reinheit. Ihr Beten machte seine Arbeit unerträglicher. Ihre Sanftmut machte seinen Gehorsam schmerzhafter. In gewisser Weise verkörperte sie die Welt außerhalb des Schafotts – die Welt, für die Caspar einst glaubte zu arbeiten, die aber langsam aus seinem Blick verschwand.
In Stille präsent
Anna war keine Heldin im klassischen Sinn. Sie rettete niemanden, sie protestierte nicht, sie veränderte die Geschichte nicht. Aber sie hielt die Familie zusammen, sie bewahrte das Menschliche in einem entmenschlichenden Beruf. Ihre Stärke war ihre Einfachheit, ihre Standhaftigkeit, ihr Mitgefühl.
Ohne Anna hätte Caspar seinen moralischen Anker verloren. Ohne Anna wäre Hans Christoph ohne Ausgleich aufgewachsen. Sie war die stille Kraft in einem Haushalt, der vom Tod lebte, aber nicht in Grausamkeit versinken wollte.
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Hans Christoph: Sohn, Schüler, Nachfolger
Hans Christoph Kruse wurde am 3. Januar 1643 in Goslar geboren, als Sohn von Caspar Kruse III und Anna Clages. Er war das sechste Kind, wurde aber schließlich der wichtigste Erbe: des Amtes, des Hauses, des Namens – und des inneren Ringens, das das Leben eines Scharfrichters mit sich brachte.
Kindheit im Schatten des Schwertes
Hans Christoph wuchs im Haus am Rosenberg auf, dessen Hof an die Stadtmauer grenzte. Von klein auf war er umgeben von Schweigen, von Scheu, von dem Bewusstsein, dass sein Vater etwas tat, wovor andere die Augen verschlossen. Und doch: Im Haus herrschte Liebe, eine gewisse Ruhe. Anna, seine Mutter, sorgte für Struktur. Caspar, sein Vater, war streng, aber gerecht. Die Kinder lernten lesen, schreiben, Psalmen singen, Holz hacken – und schweigen.
Hans Christoph war ein aufmerksames Kind. Er beobachtete, stellte kaum Fragen, merkte sich aber vieles. Caspar bemerkte früh, dass gerade dieser Sohn ihn vielleicht einmal beerben würde. In einer Tagebuchnotiz von 1655 schrieb er: „Er schaut, wie ich damals schaute. Mit Verständnis und Abscheu zugleich.“
Ausbildung zum Scharfrichter
Ab seinem dreizehnten Lebensjahr wurde Hans Christoph Schritt für Schritt in die Aufgaben des Amtes eingeführt. Zuerst half er im Garten und bei den Tieren. Dann durfte er das Werkzeug reinigen. Mit fünfzehn begleitete er seinen Vater in die Abdeckerei nach Seesen, wo Kadaver verarbeitet wurden. Dort sah er zum ersten Mal einen toten Menschen – nicht durch Krankheit gestorben, sondern durch das Gesetz.
Sein Vater unterwies ihn in den Regeln der Carolina, ließ ihn über die Rolle der Henker in der römischen und biblischen Geschichte lesen und sprach mit ihm über Recht und Gewissen. Hans Christoph hörte zu, nickte und schwieg. Aber nachts, so schrieb Caspar, wurde er manchmal durch das Wimmern seines Sohnes im Schlaf geweckt.
Im Jahr 1667 übernahm Hans Christoph zusammen mit seinen Brüdern Christoph, Wilhelm und Valentin die Abdeckerei in Seesen – ein formales Zeichen, dass sie den Weg ihres Vaters einschlugen. Von ihnen war es Hans Christoph, der schließlich offiziell zum Scharfrichter von Goslar ernannt wurde, nach Caspars Tod im Jahr 1682.
Charakter
Hans Christoph ähnelte seinem Vater, war aber noch stiller, bedächtiger, vielleicht empfindsamer. Er zeigte Respekt vor dem Gesetz, hatte jedoch ein tieferes religiöses Empfinden. In seinem späteren Leben, so geht aus städtischen Rechnungen und Zeugenaussagen hervor, führte er sein Amt mit Ruhe aus – und versuchte, wo möglich, Versöhnung und Barmherzigkeit Raum zu geben.
In Caspars Tagebuch erscheint er als Lichtpunkt. Nicht als Retter, aber als jemand, in dem Hoffnung lag. Ein Sohn, der verstand, ohne zu verurteilen. Der fortsetzte, was sein Vater tat, aber mit einer sanfteren Hand. In der fiktiven Schlusspassage des Romans blickt Hans Christoph auf seinen Vater zurück – mit Respekt, aber auch mit Fragen: „War er schuldig, oder war er treu? Oder sind das zwei Seiten derselben Münze?“
Fortführung des Amtes
Hans Christoph wurde 1678 Scharfrichter von Liebenburg und trat wenige Jahre später die Nachfolge seines Vaters in Goslar an. Dieses Amt übte er noch jahrzehntelang aus. Sein Leben umspannte den Übergang von blutigen Hexenprozessen zu einer Zeit vorsichtiger Aufklärung.
In seinem Amt trug er den Namen Kruse nicht als stolze Fahne, sondern als Verantwortung. Er blieb im Elternhaus am Rosenberg wohnen. Er pflegte den Galgenberg. Und er betete, wie sein Vater, jeden Morgen für diejenigen, denen er Schmerzen zufügen musste.
Nachfolgend öffnen sich die ausgewählten Tagebuchaufzeichnungen aus dem Leben von Caspar Kruse III – Scharfrichter von Goslar, Zeuge und Diener einer Zeit zwischen Recht und Abgrund.

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