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Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 24. Februar 1642 – Begegnung mit dem Stadtarzt

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 Die Luft war heute trocken, unnatürlich trocken für diese Jahreszeit. Kein Schnee, kein Regen. Nur ein dünner Wind, der wie Asche über das Straßenpflaster strich. Ich war gerade dabei, den Hof zu reinigen – ein Schweinekadaver war am frühen Morgen bei der Abdeckerei abgeladen worden – als ein Junge vom Rat herbeigelaufen kam, mit roten Wangen und einem Pergament in der Hand. Kein Siegel, nur der Name „Keller“ und ein Ort: Hinterzimmer des Gasthofs Zum Goldenen Adler . Ich wusch meine Hände, zog einen sauberen Mantel an – und ging. Dr. Keller erwartete mich dort, wie geschrieben. Nicht in seinem eigenen Haus, sondern in der Abgeschlossenheit eines Zimmers über einer Herberge. Es roch nach altem Wein und Honigtabak. Er stand am Fenster, im letzten Winterlicht, und blickte über die Breite Straße, als suche er nach etwas, das längst verschwunden war. Als ich eintrat, drehte er sich langsam um. Er trug keinen Hut – ungewöhnlich – und sein Haar lag vom Schweiß platt an. In seinen Aug...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 5. Januar 1642 – Der Schandpfahl

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 Der Wind schnitt wie eine kalte Nadel durch die Marktstraße. Die Stände des letzten Markttages waren noch nicht ganz abgebaut, und der Geruch von Fisch, Speck und saurem Wein hing noch in der Luft. Ich ging über den Platz, wie ich es oft tue – nicht als Käufer oder Zuschauer, sondern als einer, der sieht, wat anderen entgeht. Und da stand er, wie immer: der Pranger. Der Schandpfahl. Eine hölzerne Säule, in einem Sockel aus hartem Stein verankert, mit einem eisernen Ring auf halber Höhe und Spuren von Fesseln an den Seiten. Heute sah ich etwas anderes. Der Fuß, sonst verborgen unter Stroh oder Schlamm, zeigte einen tiefen Riss. Nicht oberflächlich. Nicht harmlos. Ich hockte mich hin und fühlte mit dem Daumen: Das Holz wich nach. Feucht, weich. Eine ältere Frau, eine Marktfrau, sagte leise hinter mir: „Ein Betrunkener ist an Silvester dagegengefallen. Sie haben ihn mit gebrochener Nase nach Hause geschleppt.“ Ich nickte. Es verwunderte mich nicht. Der Pranger war öfter Kulisse a...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 19. September 1641 – Der Ruf aus Wolfenbüttel

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 Aus Wolfenbüttel kam ein Bote, früh am Morgen, verschwitzt, sein Mantel mit Staub befleckt. Er brachte einen versiegelten Brief, unterzeichnet vom Stadtrat von Wolfenbüttel und beglaubigt mit dem Wappen Herzog Augusts. Ihr Scharfrichter war gestorben, so hieß es — Dysenterie, schnell und schmutzig, wie es in Notzeiten üblich ist. Sie baten mich um Beistand. Nicht nur mich, sondern auch den Scharfrichter von Halberstadt, einen gewissen Georg Heinrich Schlott. Wir kannten einander nur dem Namen nach, aber man hielt uns beide für erfahren und zuverlässig. Es war nichts Ungewöhnliches: Wenn eine Stadt ihren Henker verlor, wandte man sich an die Nachbarstädte. Der Tod muss weitergehen, auch wenn er keine Hände mehr hat. Ich ritt am nächsten Tag fort. Anna gab mir getrocknete Wurst und ein kleines Krüglein Bier mit. Sie sagte: „Sei still in dir, Caspar. Das ist das Beste, was du sein kannst.“ Ankunft in Wolfenbüttel – 17. September Die Stadt lag düster unter einem tiefhängende...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 3. Mai 1641 – Essen als Bezahlung

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 Heute Morgen, noch sehr früh, klopfte ein Knecht an unsere Tür. Er hieß Friedrich, wenn ich mich recht erinnere, und hatte ein blutdurchtränktes Tuch um seine Hand gewickelt. Er arbeitete für den Brauer an der Gose, sagte er, und hatte sich an einem Eisenring eines Fasswagens geschnitten. Seine Augen wirkten fahl, seine Hand zitterte unter dem Lappen. Das Blut hatte sich mit dem Spreu an seinem Ärmel vermischt. Ein Duft von Hefe hing um seine Schultern. Ich sah auf seine Hand hinab und erkannte, dass das Fleisch bis in die Handfläche gespalten war. Kein Knochen getroffen, aber tief. Er würde die Wunde nicht lange trocken halten können. Anna brachte Wasser; ich reinigte die Verletzung, legte Honig und Beinwell darauf und wickelte sie in frisches Leinen. Er biss die Zähne zusammen und sagte kaum ein Wort. Als alles getan war, sah er mich schräg an und fragte, was ich für meine Mühe haben wollte. Ich zuckte mit den Schultern. „Nichts“, sagte ich. „Kein Geld heute.“ Gegen Mittag st...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 2. April 1641 – Die Katze in der Ecke

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 Sie sah mich nicht an, als sie vorgestern hereingebracht wurde. Bregje Menze, Witwe eines Feldwächters, vierundfünfzig Jahre alt. Klein von Gestalt, mit grauen Zöpfen, die wie Stricke ihren Rücken hinabfielen. Ihr Gesicht war scharf, wie ein Messer, das zu oft geschliffen wurde. Sie hatte Hände wie Krallen – nicht wie eine Katze, sondern von der Arbeit. Sie hatte drei Kinder großgezogen und zwei begraben. Die Klage kam von einer Nachbarin: das Kind sei krank geworden nach einem misslungenen Butterkneten. Danach folgten die üblichen Aussagen – Träume von Kratzen, ein Huhn, das nicht mehr legte, ein Kind, das plötzlich schwieg. Und also, wie immer, kam der Befehl. Ich stellte keine Fragen mehr nach Schuld. Das tun wir in diesen Jahren nicht mehr. Wir fragen nach Bekenntnis. Sie wurde auf der Holzbank festgebunden, die Füße entblößt. Die Luft war kalt in der Ulrichskapelle, doch meine Hände waren warm von der Arbeit. Ich wählte an diesem Tag kein Eisen, sondern die alte Meth...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 3. März 1641 – Junge mit Feuer

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 Er kam am frühen Morgen zum Tor, mit einem Jutesack über der Schulter und Schlamm bis zu den Knien. Sein Name war Matthes. Noch keine zwanzig. Seine Stimme kratzte vor Kälte und Schüchternheit. Doch seine Augen – sie brannten. Nicht aus Zorn oder Stolz, sondern aus etwas anderem: einer Mischung aus Trotz, Ehrgeiz und Angst. Er sagte: „Mein Vater diente bei Marten Voigt, dem alten Scharfrichter von Dannenberg.“ Ich nickte. Marten ist mein Schwager. Matthes hatte das Handwerk nicht gelernt, sagte er, aber er hatte zugesehen. Er hatte seinem Vater geholfen beim Beseitigen von Tieren, beim Spalten von Knochen, beim Tragen von Seilen. Und nun war sein Vater tot, von einer Leiter gestürzt beim Aufhängen von Schafsfellen. Der Rat hatte keine Entschädigung gewährt. Und die Nachbarn hatten ihn gemieden. Ich fragte ihn, warum er zu mir gekommen sei. Er blickte auf und sagte: „Weil das Feuer nirgends sonst mehr brennt.“ Er durfte bleiben. In der ersten Woche gab ich ihm einen Hammer un...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 8. November 1640 – Vor einem Scheiterhaufen

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 Der Morgen hatte eine graue Haut. Nebel stieg aus der Gose und zog wie ein gespenstischer Schleier durch die Rosenbergstraße, als hauchten die Toten selbst ihren Atem noch über die Stadt. Ich war früh auf; das Feuer musste vor Mittag stehen, so hatte es der Rat befohlen. Die Frau – Grietke Klenze – saß noch eingesperrt in der Ulrichskapelle, an den eisernen Ring gekettet. Seit gestern hatte sie nicht mehr gesprochen, auch nicht mehr geschrien. Nur ihre Augen, die sich bei jedem Schritt auf der Treppe spannten wie ein Seil, das jeden Moment reißen konnte. Ich trug den Auftrag wie immer schweigend. Für das Volk ist das Feuer Reinigung, Gerechtigkeit. Für mich ist es Arbeit, Rechenwerk. Der Zimmermann brachte das Holz: trockenes Fichtenholz aus dem Viertel beim Zwinger, dazu ein Bund Reisig und einige Buchenblöcke. Ich zahlte ihm einen Taler und sprach kein Wort. Er sah nicht auf, und ich auch nicht. Es war Arbeit, nichts mehr. Wir wussten beide, dass dieses Holz nicht zur Wärme di...