Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 14. April 1638 – Anna Middendorf – Die Hände der Witwe

 Der Regen schlug unaufhörlich gegen die Fenster der Ulrichskapelle. Der Himmel über Goslar hatte jenes fahle Grau, das man nur sieht, wenn der Frühling sich weigert, zu kommen. Meine Hände waren trocken von der Asche, die ich am frühen Morgen aus der Schmiede geholt hatte. Der Ofen für das Eisen hatte stundenlang gebrannt – das Urteil war längst geschrieben, noch bevor der Schmerz begann.

Anna Middendorf, die Witwe des Thomas Schrader, wurde als Erste hereingebracht.
Sie taumelte die Treppe hinunter, gehalten von zwei Wachen. Ihre linke Hand war verbunden – eine Wunde aus früheren Verhören. Sie war seit März eingesperrt. Die Luft um sie herum roch nach Schimmel, Urin und Eisen. Ihre Augen waren stumpf. Nicht gebrochen, aber fern.

Die Anklage:
„Ein Kind bei der Geburt entstellt.“
„Mit einer toten Henne im Nebel gesehen.“
„Ehefrau eines Mannes, der einst mit einer Hexe Handel trieb.“
Der Pastor hatte sie eine Teufelsmutter genannt. Die Nachbarin sagte, Anna sei immer zu still gewesen. Ihre Nichte hatte ihr den Platz am Tisch verweigert. Der Rat hatte genug gehört.

Ich fragte sie:
„Wollt Ihr sprechen, bevor wir beginnen?“
Sie hob ihr Kinn. Die Haut unter ihren Augen hing schwer wie Blei.
„Ich habe nichts zu sagen, als was ich schon gesagt habe. Ich bin eine Frau mit leeren Händen.“
Ich legte sie auf die Bank.
Jörg band ihre Knöchel. Bastian nahm die Riemen. Sie wehrte sich nicht. Ich dachte sogar, sie entspannte sich, als das Leder sich um ihre Knie und Handgelenke spannte. Als gäbe sie sich dem Mechanismus des Unvermeidlichen hin.

Die erste Drehung.
Das Holz krachte.
Ihre Schultern begannen zu zittern. Kein Schrei.
Die zweite Drehung.
Ihre linke Hand, bereits gequetscht, begann zu bluten.
Die dritte Drehung. Da brüllte sie. Kein gewöhnlicher Schrei, sondern ein raues, hohles Aufheulen wie von einem Tier auf dem Schlachtblock.

„Das Huhn war tot! Es war schon tot! Ich habe es nicht getötet, ich habe es gerupft—“
Ich fragte:
„Habt Ihr dem Kind etwas getan?“
Sie biss sich auf die Zunge.
Ich gab das Zeichen für das Eisen.
Jörg brachte die Stange, noch rotglühend aus dem Ofen. Ich hielt sie über ihren Rippen, nahe am Brustbein. Die Hitze zog Kreise in der Luft.
Sie schrie. Ihr Rücken hob sich vom Holz. Und dann, endlich, die Stimme der Aufgabe:
„Ich wollte das Kind taufen! Die Mutter blutete schon, ich hatte keine Zeit, das Wasser war kalt, es rann weg, ich dachte, es bewegte sich—“
Sie begann zu schluchzen. Nicht wie eine Frau, sondern wie ein Kind. Ein Kind, das um etwas weint, das längst verloren ist.

Ich schrieb:
Geständnis erlangt.
Doch ich vermerkte nicht, wie.
Der Pastor stand hinter mir.
Er flüsterte:
„Sie ist reif für das Feuer.“
Und ich nickte – aus Gewohnheit. Doch tief in mir hörte ich etwas brechen. Nicht in ihr. In mir.

Der Tag endete in Stille.
Anna wurde zurück in ihre Zelle getragen. Ihre Hände lagen wie schlaffe Blätter auf ihrem Schoß.

Notiz (später in der Nacht):
Ihre Augen folgten mir. Selbst als sie nichts mehr sagte. Selbst als sie fortglitt. Selbst jetzt, da ich dies schreibe, sehe ich sie mich ansehen. Nicht mit Hass. Nicht mit Furcht.
Mit Mitleid.



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