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Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 23. Juni 1636 – Dietrich Henning

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 Es war gegen Mittag, als man den Jungen hereinbrachte. Dietrich Henning, höchstens siebzehn Jahre alt, das staubige Haar noch voller Heu, die Hände geballt, die Kleidung an den Schultern zerrissen. Ein Knecht vom Land, aus Harlingerode, kaum geformt, die Stimme noch brüchig wie Schilf. Er soll seinen Meister vergiftet haben, einen gewissen Herrn Vogler, Besitzer eines ärmlichen Hofes am Dorfrand. Der Vorwurf: Rattengift im Morgengrieß, aus Rache für Schläge und Hunger. Er schwieg. Selbst als der Rat ihm die Anklage verlas, starrte er nur auf den Boden. Nicht aus Reue, sondern aus Trotz. Ich kannte diesen Blick. Es war keine Schuld, die dort brannte, sondern Angst, die keinen Ausweg kannte. Der Prediger, der junge Pfarrer Klausner, sprach von der Möglichkeit einer Besessenheit — der Teufel, der die Zunge bindet, wie in der Schrift beschrieben. Der Stadtarzt nickte bedächtig. Aber ich sah nur einen Jungen, der die Sprache der Gewalt kannte, nicht die der Worte. Ich wurde mit der V...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 3. Juni 1636 – Nächtliche Besprechung

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 Die Abendluft hing schwer über Goslar, gesättigt von einer Hitze, die sich selbst nach Sonnenuntergang nicht zurückzog. Es war kein Mond zu sehen, nur der blasse Schein der Sterne hinter einem Schleier von Wolken. Ich hatte mich bereits in mein Arbeitszimmer zurückgezogen, das Messer geschärft und den Wein eingeschenkt, als es erneut an die Tür klopfte — zweimal kurz, einmal lang. Das Zeichen des Rates. Meine Frau blickte von ihrer Strickarbeit auf. Sie sprach kein Wort, doch ihre Finger erstarrten. Wir beide wussten: kein Bote kommt nach Sonnenuntergang wegen einer leichten Angelegenheit. Auf dem Platz vor dem Rathaus brannten noch einige Fackeln. Die Fenster waren dunkel, bis auf eines. Das Hinterzimmer. Dort, wo man tagt, wenn Niederschriften später verdreht oder vergessen werden sollen. Der Knecht führte mich schweigend hinein. Der hölzerne Flur roch nach Kerzenwachs und altem Leinen. Im Zimmer saßen drei Männer. Rechts Bürgermeister Cramer, der Jüngste von ihnen, mit nervö...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 21. Dezember 1635 – Tauftag

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 Heute, einen Tag später, brachte ich sie zur Sankt-Stephanikirche. Anna blieb zu Hause, um sich auszuruhen. Die Hebamme hatte darauf bestanden. Es war kalt, und der Schnee knirschte unter meinen Füßen. Ich trug meine Tochter in einem dicken Wolltuch, dicht an meine Brust gedrückt. Sie schlief. In der Kirche war es still, der Prediger flüsterte die Worte des Sakraments beinahe feierlich. Wir standen am Taufbecken, ich und die beiden Zeugen – mein entfernter Vetter Wilhelm und Annas Schwester Ilsabe. „Anna Maria“, sprach der Prediger, „ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Und er sprengte das Wasser über ihre Stirn. Sie bewegte sich kurz, runzelte die Stirn, doch sie weinte nicht. Keine Träne. Ich fand das stark, als wüsste sie, dass dies ein wichtiger Moment war und dass Schweigen angebracht sei. Als ob sie begriff, dass sie von nun an ein Kind Gottes war. Danach sangen wir leise einen Psalm, und ich blickte hinauf zum hölzernen Gewölbe der Kirc...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 20. Dezember 1635 – Anna Maria

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 Heute ist unsere Tochter geboren. Ein Mädchen. Unsere erste. Und was für eines: kräftig von Gestalt, mit einem starken Atem, einer Farbe wie Apfelblüte im Frühjahr und Augen, die noch trüb schauen, in denen aber etwas Durchdringendes liegt. Wir haben ihr den Namen Anna Maria gegeben, nach meiner Frau und nach der Mutter Gottes. Möge sie gesegnet sein mit der Tugend der einen und der Heiligkeit der anderen. Es war früh am Morgen, draußen noch dunkel. Der Schnee hatte sich wie eine weiche Decke über den Rosenberg gelegt, und im Haus brannte nur das Herdfeuer. Anna hatte am Abend zuvor noch das Leinen ausgewaschen und die Suppe für den nächsten Tag vorbereitet, als wüsste sie, dass ihre Stunde nahte, sich ihr aber nicht hingeben wollte. Sie hat, zu meinem Erstaunen, bis in die letzten Tage hinein ihre Aufgaben ohne Klage erfüllt – als ob ihr Leib stärker wäre als die Monate, die er trug. Als ihre Wehen begannen, schickte ich Knecht Bastian zur Hebamme. Er rannte die Rosentorstraße ...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 1. August 1635 – Wieder schwedische Soldaten

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 Noch keine Woche, nachdem das Regiment von mehr als tausend schwedischen Soldaten Goslar verlassen hatte, ertönte erneut das Trommeln der Trommeln und das Klirren der Hufe in den Straßen. Diesmal zog eine Kompanie Reiter und ein Regiment Fußvolk in die Stadt ein, unter dem Befehl von Obrist Hamson. Die Menschen standen machtlos an den Straßenrändern. Manche senkten den Blick, andere flüsterten Flüche in ihre Bärte, doch niemand wagte Widerstand. Die Erinnerung an die Monate des Hungers und der Not, als 1304 Mann ernährt und beherbergt werden mussten, ist noch frisch. Und nun beginnt alles von Neuem. Die Reiter nahmen Quartier in den Ställen und Herbergen am Breiten Tor, während das Fußvolk über die Viertel verteilt wurde. Häuser wurden erneut aufgebrochen, Scheunen beschlagnahmt, und der Marktplatz wurde vollgestellt mit Karren und Zelten. Der Rat hat bestimmt, dass die Bürger abermals Kost und Unterkunft gewähren müssen. In der Marktstraße hörte ich eine Frau rufen: „Wir haben ...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 13. März 1635 – Glocken für den Kaiser

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  Heute läuteten die Glocken der Marktkirche und der Sankt-Stephanikirche ununterbrochen, schwer und feierlich. Es war wegen des Todes unseres Kaisers Ferdinand II., der bereits am 15. Februar in Wien gestorben ist. Die Nachricht erreichte Goslar verspätet, doch heute wurde sie offiziell begangen. Der Rat hatte angeordnet, dass alle Kirchen ihre Glocken läuten und dass die Bürger sich im Gebet versammeln sollten. In der Marktkirche fand ein besonderer Gottesdienst statt, bei dem der Prediger über den Gehorsam gegenüber der von Gott selbst eingesetzten Obrigkeit sprach. Er predigte, dass der Kaiser, auch wenn er weit von uns entfernt sei, den Platz von Gottes Ordnung im Reich vertrete, und dass wir deshalb für seine Seele und für die Zukunft des Heiligen Römischen Reiches beten müssten. Die Kirche war voll. Ich sah Bürger, Ratsmitglieder und Zunftbrüder, alle in düsterem Gewand. Die Frauen flüsterten leise, die Kinder schwiegen. Draußen, auf dem Marktplatz, blieben viele stehen u...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 3. April 1635 – Erneut schwedische Soldaten

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 Heute zog erneut ein Regiment schwedischer Soldaten in unsere Stadt ein. Diesmal kamen sie nicht als Feinde, die die Mauern einnahmen, sondern als „Verbündete“, die einquartiert werden mussten. Das Regiment zählte 1304 Mann, ein endloser Zug von Pikenieren, Musketieren und Reitern, die durch die Stadttore marschierten und sich über unsere Viertel verteilten. Der Rat hatte befohlen, dass die Bürger ihre Häuser öffnen mussten. Jede Familie bekam Soldaten zugewiesen, die Unterkunft und Verpflegung erhalten sollten. Die Last ist schwer, denn der Wintervorrat ist kaum aufgebraucht, und die Ernte dieses Jahres ist noch nicht eingebracht. Ich hörte, wie Frauen weinten, weil ihre Betten beschlagnahmt wurden, und wie Kinder ihre Plätze an grobe Männer abtreten mussten, die kein Wort Deutsch sprachen außer einigen Flüchen. Ich selbst blieb von Soldaten im Haus verschont, vielleicht weil man mich in meinem Amt nicht zu belasten wagt. Dennoch sehe ich die Spannung in den Straßen: Wagen mit ...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 15. Februar 1635 – Ausbleibende Zahlung

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  Der Wind hatte sich in den Ecken der Stadt festgesetzt, scharf wie Rost. Der Schnee war geschmolzen, aber er hinterließ einen grauen Brei — Schlamm, Stroh, Mist. Die Straßen um den Verteidigungsturm, den Zwinger, wo die Stadt ihren Unrat versenkt, dampften von Fäulnis und stehendem Wasser. Meine Knechte von der Abdeckerei kamen zu mir, drei Wochen ohne Lohn. Ihre Hände zerschunden vom Kratzen, ihre Schuhe schwarz bis zu den Schnürsenkeln, ihre Röcke durchtränkt vom Geruch der Jauchegruben. Sie klagten nicht laut, doch ihre Blicke sprachen. Burschen aus Seesen und Liebenburg, die mehr Därme gesehen hatten als Brot. Sie taten, was niemand tun wollte. Sie schöpften die Gruben aus, entfernten Kadaver, zogen halbverweste Hunde aus dem Wasser am Stadtwall. Und doch … keine Bezahlung. Ich schrieb einen Brief an den Kleinen Rat, mit fester Hand: „Ew. Hochweisen mögen bedenken, dass derjenige, der das Unrat der Stadt trägt, nicht vergessen werden soll, wenn die Kasse geschlossen ...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 3. Dezember 1634 – Unsere Kinder

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  Heute haben wir die zweite Kinderstube eingerichtet. Anna holte zusätzliche Strohsäcke vom Markt, ließ neue Decken aus grober Wolle anfertigen und ordnete das Holzwerk, als sei es ein Fest. Das Zimmer riecht noch nach Harz und frischem Kalk. Die Winterluft liegt schwer über Goslar, doch im Haus erklingen Lachen und Gebrabbel zweier Stimmen: Wilhelm und Hans Caspar. Hans Caspar rennt schon wie ein junger Hund durch das Haus — der Holzboden dröhnt, der alte Schrank wankt, wenn er dagegenstößt. Seine Füße sind oft schmutzig von der Straße, sein Haar voller Stroh, seine Stimme laut. Anna lacht, wenn ich sie zur Ruhe mahne. „Lass sie leben,“ sagt sie. Und ich schweige. Denn das ist, was sie tun: sie leben. Ohne Angst, ohne Urteil. Als ob der Schatten meines Amtes sie nicht berührte. Anna sagt, dass ich heutzutage mehr lächle, wenn ich von meiner Arbeit heimkomme. Vielleicht ist es so. Vielleicht lasse ich ein Stück der äußeren Rüstung fallen, sobald ich das Tor schließe und mir...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 27. Juni 1634 – Prozess gegen eine Soldatenfrau

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 Die Luft hing heute schwer über der Stadt. Nicht von Sturm oder Regen — sondern von etwas anderem. Eine Spannung, die durch die Straßen zog, über den Marktplatz wogte, in den Augen der Menschen hing wie Staub. Margarete Lichten stand vor Gericht. Sie war die Witwe eines Söldners, gestorben im Dienst des Kaisers, irgendwo zwischen Halberstadt und Magdeburg. Niemand wusste es genau. Sie war zurückgeblieben mit einem zerlumpten Rock, drei Kindern und dem Namen eines Mannes, der mehr Gesichter getötet hatte als geküsst. Sie wurde des Diebstahls von Opfergaben aus der Kirche beschuldigt — Kerzen, Brot, Münzen aus dem Opferkasten. Doch es blieb nicht dabei. Der Prediger, ein junger Mann mit feurigen Augen und unbeugsamem Rücken, nannte sie eine Hexe. Er sagte: „Sie hat das Heilige mit unreinen Händen berührt.“ Und: „Gottes Fluch ruht auf dem, der das Grab entweiht.“ Denn während ihrer Befragung, unter der ersten Folter, gestand sie, dass sie zusammen mit ihrem verstorbenen Mann ...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 17. April 1634 – Fastenmahlzeit

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Die Tage werden länger, doch der Wind bleibt scharf. Die Bäume entlang der Gose zeigen nur Knospen, zögernd, ob sie erblühen dürfen. Im Haus brennt am Abend noch immer eine Kerze, doch das Licht ist karg — nicht aus Armut, sondern aus Zurückhaltung. Es ist Fastenzeit. Wie jedes Jahr essen wir einfach: Roggenbrot, gedünstete Rüben, Apfelmus. Anna bereitet das Mus auf ihre eigene Weise zu — mit einem Schuss Essig und einem Löffel Honig, sodass es zugleich zusammenzieht und mildert. Es erfüllt die Stube mit einem Duft, den ich zu erkennen gelernt habe als Nüchternheit, aber auch als Heimeligkeit. Sohn Hans Caspar fragt noch nicht nach Fleisch. Er kennt den Rhythmus des Kalenders besser als mancher Prediger. Anna sagt: „Wer sich enthält, erinnert sich besser.“ Und ich weiß: Sie hat recht. Doch gestern Abend, als ich das Fenster zur Marktseite schloss, roch ich es unverkennbar: Braten. Schweinespeck, vielleicht Kalb. Ein Geruch, der durch die Abendluft schnitt wie ein Ruf in einer sti...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 7. März 1634 – Die Dachziegel

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 Die Nacht war rau. Der Ostwind jagte über den Rosenberg, als wolle er Rache nehmen an allem, was emporragte. Er pfiff durch Ritzen, heulte am Schornstein vorbei, riss an den Läden. Das Haus ächzte wie ein Schiff auf hoher See. Ich lag wach, lauschte dem Sturm und hörte um die dritte Nachtstunde zwei Schläge, hart und scharf. Als ob Steine auf das Pflaster fielen. Danach das unverkennbare Sausen fallender Dachziegel. Am Morgen sah ich es mit eigenen Augen: zwei Ziegel weg, die Schiefer verschoben, eine Öffnung, durch die Regen und Wind erbarmungslos eindringen konnten. Es regnete nicht, noch nicht, aber der Himmel war grau und drohend. Ich wusste, dass ich keinen Tag warten konnte. Ich zog meine alten Stiefel an, die Lederjacke mit den Rissen an den Ellbogen, und nahm das Werkzeug. Anna stand in der Tür. Ihr Gesicht war bleich, die Arme verschränkt. Sie wusste schon, was ich vorhatte. „Warum keinen Zimmermann?“ fragte sie leise. Ich sah sie an und sagte: „Weil der nicht zu einem...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 12. Februar 1634 – Magda vom Bruch

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 Der Schnee lag dick in den Gassen der Altstadt, hart geworden unter den Füßen der Stadtwachen, die sie holten. Es war kurz nach dem Morgengebet, als Magda vom Bruch hereingebracht wurde — nicht geschrien oder geschlagen, sondern still, mit leicht gesenktem Haupt, als hätte sie ihre Verhaftung selbst erwartet. Man flüsterte schon seit Wochen über sie. Sie wohnte in einem kleinen Häuschen hinter der Brauergasse, nahe bei der Gose, wo sich die Feuchtigkeit sammelt und die Mauern im Winter schwitzen. Sie verkaufte Kräuter auf dem Markt: Kamille, Asa foetida, Frauenmantel, Eisenkraut. Manchmal erzählte sie alte Geschichten, gab ein Rezept gegen Geschwüre oder ein Trank gegen Krämpfe. Zu viele Menschen hatten sie bei Nacht aufgesucht. Zu viele Frauen hatten gesagt, sie hätten „etwas von Magda“ bekommen. Und als die junge Frau des Krämers Christoph zweimal ihr Kind verlor und die Nachbarin Gertrud flüsterte, Magda habe „Worte über dem Bett gemurmelt“, war die Anklage geboren. Ich kannt...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 16. September 1633 – Taufe in der Sankt-Stephani-Kirche

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  Am Morgen ging ich mit Anna, die auf einer Trage ruhte, und unserem ältesten Sohn Hans Caspar zur Kirche. Unsere Nachbarn, soweit sie uns dulden, blieben am Rosentor stehen und sahen uns nach mit jener Mischung aus Neugier und Furcht, die wir so gut kennen. Der Scharfrichter bleibt für viele ein Mann des Unheils, selbst wenn er sein Kind zur Taufe trägt. Die Sankt-Stephani-Kirche war kühl und still. Die Kerzen brannten. Prediger Friedrich erwartete uns bereits, die Hände gewaschen, das Gewand tadellos. Lange blickte er auf den kleinen Wilhelm in meinen Armen, doch sprach nichts als Segen. Ich stand dort vor dem Altar, mit dem Kind in meinen Händen und der Mutter hinter mir, und ich fühlte, wie etwas Weiches, etwas Großes durch meine Brust strömte – als ob Gott selbst für einen Augenblick im Atem meines Sohnes spräche. „Wilhelm,“ sprach Friedrich laut und klar, während er das kalte Taufwasser über die Stirn meines Sohnes fließen ließ, „ich taufe dich im Namen des Vaters, des So...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 15. September 1633 – Im Haus am Fuße des Rosenbergs

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 Es ist Abend. Meine Hände zittern noch von dem, was mir der Tag gebracht hat. Kein Blut, kein Stahl, kein Tod – sondern Leben. Unser Sohn ist geboren. Anna hat einen kräftigen Jungen zur Welt gebracht, rot von Farbe und mit einer Stimme wie eine Sturm­glocke. Wir haben ihn Wilhelm genannt, nach meinem Großvater mütterlicherseits. Das Zimmer riecht nach warmem Leinen, nach Eisen und nach etwas Unbestimmtem – dem Schweiß und Blut der Geburt, vermischt mit Tränen der Freude und der Erleichterung. Ich habe geweint. Ich, Caspar, Scharfrichter von vier Städten, geweint wie ein Kind. Die Schwangerschaft war lang und schwer. Anna war in den vergangenen Monaten oft krank. In den frühen Morgenstunden hing sie über die Schüssel gebeugt, ihr Gesicht bleich, ihr Atem keuchend. Der Geruch von Fleisch, von Bier, ja selbst von meinem Ledergürtel, brachte sie zum Würgen. Ihr Appetit kam und ging, meistens brachte sie den Tag nur mit etwas Brei und gekochter Möhre zu. Manchmal fürchtete ich um ihr...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 4. April 1633 – Ein neuer Knecht

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 Sein Name war Bastian. Ein Junge aus dem Harz, aus Clausthal, wo die Luft nach Erz und Fichten riecht. Er kam nicht aus Berufung zu mir, auch nicht aus Not, sondern aus einer Zwischenzeit. Eine stille Gestalt, hochgewachsen, mit Händen, die wie Schraubzwingen an das Werkzeug passten. Als ich ihn fragte, warum er sich meldete, sagte er: „Ich habe wenig gelernt. Außer tragen.“ Bastian wurde mein Knecht, als ich gerade erst das Amt meines Vaters übernommen hatte. Ich kannte das Werkzeug bereits, doch nicht die Stille der Assistenz. Er füllte diese Stille. Nicht mit Worten, sondern mit seiner Gegenwart. Er stand stets einen Schritt hinter mir, aber nie zögernd. Schraubte Daumen wie ein Zimmermann, der mit Weichholz arbeitet. Legte Seile an mit Sorge für den Knoten, nicht für das Fleisch. Nach der ersten Befragung mit ihm sah ich, wie seine Schultern bebten. Er saß draußen an der Ulrichskapelle auf dem steinernen Sims, seine Hände schwarz von Öl und Blut, seine Augen in die Ferne ger...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 14. März 1633 – Der Abzug der Schweden

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 Heute ist der Tag, an dem die schwedischen Truppen unter der Führung von Obrist Bergström unsere Stadt verlassen haben. Seit ihrem Einzug im Januar des vergangenen Jahres hat ihre Anwesenheit schwer auf Goslar gelastet. Nun marschierten sie wieder durch die Tore, doch diesmal hinaus, die Wagen beladen mit Kostbarkeiten, die sie aus Häusern, Kirchen und Zünften geraubt hatten. Die Bevölkerung hat während ihres Aufenthalts unsäglich gelitten. Bauern brachten kaum noch Getreide auf den Markt, da ihre Vorräte immer wieder beschlagnahmt wurden. Viele Häuser wurden geplündert, manche Familien völlig verarmt. Ich sah Frauen an den Straßen weinen, nicht aus Freude darüber, dass die Soldaten abzogen, sondern aus Trauer über das, was sie zurückließen: leere Keller, verschwundenes Silber, zerrissene Leben. Die Stadt, einst so stolz, ist verarmt zurückgeblieben. Für mich persönlich hat sich in all den Monaten wenig geändert. Meine Arbeit ging weiter wie immer. Die Toten blieben, das Vieh s...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 9. Februar 1633 – Kommunion

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 Der Morgen war grau und still. Der Schnee, der in den Tagen zuvor gefallen war, lag wie ein alter Mantel über den Dächern des Klosterviertels, schwer und schmelzend. In der Sankt-Stephanikirche war es kalt, und der Atem der Gemeinde trieb wie Nebel durch den dämmrigen Raum. Der Prediger sprach mit getragener Stimme von Reinigung, vom Leib und Blut, von der Gemeinschaft mit Christus in Brot und Wein. Ich kniete, wie es sich gehörte. Zwischen den Menschen. Nicht hinten, nicht vorn — sondern irgendwo in der Mitte, als könnte ich so meinen Platz vergessen. Als der Diakon zu mir kam, sah ich seine Hand zögern. Nur einen Augenblick. Es war keine große Bewegung, kein theatralischer Schreck. Nur eine kurze Verzögerung, ein Wimpernschlag der Spannung beim Brechen des Brotes. Als ob er zweifelte, ob mein Mund, mit dem ich Urteile spreche, mit dem ich Befehle zur Folter gebe, wirklich den Leib Christi empfangen dürfe. Ich sah ihn nicht an. Ich öffnete meinen Mund. Er reichte das Brot da...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, den 3. Februar 1633 – Herberge „Zum Goldenen Hirschen“

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 Der Schnee war in den Straßen von Goslar bereits größtenteils geschmolzen, doch die Luft blieb scharf. Meine Arbeit für den Tag war getan: eine Begutachtung, ein kurzes Verhör, ein Besuch bei der Abdeckerei. Die Sonne war untergegangen, die Stadt versank in der Dämmerung. Und ich hatte Durst. Ich ging zur Herberge „Zum Goldenen Hirschen“, wie ich es oft tat, wenn ich allein sein wollte — und doch unter Menschen. Der Wirt erkannte mich. Das sah ich an der Art, wie seine Hand einen Augenblick über dem Zapfhahn verharrte, bevor er nickte. Er sagte: „Hinterstube, Meister Kruse. Wie immer.“ Ich setzte mich an den Tisch beim kleinen Fenster, mit Blick auf den Hinterhof. Die Bank knarrte unter meinem Gewicht, das Holz war kalt von der Steinmauer. Das Feuer im Herd brannte niedrig, glühte aber genug, um meinen Rücken zu wärmen. Man brachte mir Gerstenbier. Warm, mit Schaum, der träge über den Rand lief. Daneben: saure Gurken in einem kleinen irdenen Topf, Linsen geschmort mit Speck u...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, den 2. Februar 1633 – Lichtmeß

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 Der Morgen begann mit Nebel über den Dächern der Altstadt. Die Pflastersteine der Marktstraße glänzten feucht, die Luft roch nach nassem Holz und Kerzenwachs. Es war Lichtmeß, Mariä Lichtmeß, der Tag, an dem man sich in der Sankt-Stephanikirche versammelte, um das Licht der Welt zu gedenken — und das neue Jahr zu segnen. Ich ging. Nicht, weil man mich erwartete, denn niemand erwartet mich. Sondern weil ich manchmal noch glauben möchte, daß es etwas gibt, das reinigt, das mildert. Die Sankt-Stephanikirche war erfüllt von Atem, Stimmen, scharrenden Stühlen. Hoch über uns hallte die Orgel. Der Prediger — ein magerer Mann mit scharfer Nase — sprach von Simeon, dem alten Priester, der das Christkind in seinen Armen gehalten hatte. „Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren; denn meine Augen haben dein Heil gesehen,“ zitierte er mit lauter Stimme, während das Licht durch die bunten Fenster fiel. Ich saß hinten, bei den Pfeilern, wo der Schatten dichter ist und das Holz der...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, den 18. Januar 1633 – Marten Voigt zu Gast

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 Der Schnee lag dick auf den Dächern von Goslar. Die Schornsteine rauchten träge in der Dämmerung. Das Haus war warm vom Feuer, und es roch nach geschmortem Kohl und Gewürzkuchen, als mein Schwager Marten Voigt aus Dannenberg ankam. Sein Mantel tropfte vom Schmelzwasser, seine Stiefel knirschten vom Streusalz. Er grüßte mich mit einem kurzen Nicken, wie er es immer tat – keine Umarmung, keine Worte der Zuneigung. Marten ist ein Mann ohne Zierrat. Sein Gesicht trägt das harte Land, in dem er lebt, seine Stimme ist tief, sein Blick scharf. Er ist Scharfrichter von Dannenberg, so wie ich in Goslar. Seine Frau ist Ilke, die Schwester meiner Anna, und wenn wir beisammen sind, liegt immer eine Spannung in der Luft – nicht feindselig, aber schwer von Ungesagtem. An jenem Abend saßen wir zusammen am Herdfeuer. Die Kinder waren nach oben gegangen, Anna hatte sich mit ihrem Strickzeug zurückgezogen. Das Feuer knisterte träge. Ich schenkte uns je einen Becher des dunklen Goslarer Bieres ein, ...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, den 8. Oktober 1632 – Erste Entbietung

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 Heute Morgen wurde ich ins Rathaus gerufen, beim ersten Glockenschlag, noch ehe der Nebel vom Rosenberg sich gehoben hatte. Ein Gesandter des Rates hatte an die Tür geklopft — mit der Rückseite seines Dolches, so schien es — kurz und bestimmt. Meine Frau sah mich an, doch schwieg. Sie kennt jenen Blick in meinen Augen, wenn es kein gewöhnlicher Tag werden soll. An der Breiten Straße hörte man nur das Scharren meiner Stiefel auf den nassen Steinen. Der Markt lag verlassen, das Morgenlicht schnitt schräg über die Fassaden der Häuser. Nur der Turmhahn kreischte metallisch im Wind. Als ich das Rathaus betrat, grüßte mich niemand. Ich bin es gewohnt. Die Knechte des Rates wichen wortlos zurück. Meine Schritte hallten zu laut auf dem Marmor des Vorraums. Alles atmete den Ernst dessen, was noch nicht ausgesprochen war. Im Kleinen Ratssaal herrschte Stille, nur das Kratzen einer Gänsefeder war zu hören. Obrist Bergström saß am Kopfende des Tisches, die Hände gefaltet, als bete er. Neben...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, den 7. Oktober 1632 – Gebet

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 Herr, Du, der alle Herzen kennet, auch das meine — gib mir Kraft, das Recht zu vollbringen ohne Stolz, ohne die Eitelkeit der Macht, ohne die Kälte der Gewohnheit. Gib mir Gehorsam, doch nicht die Art, die taub macht für das, was Recht ist. Laß meine Hände hart sein, wo es sein muß, doch mein Herz nicht zu Stein werden. Ich bitte Dich nicht, mich von meinem Amt zu erlösen, doch sieh meinen Kampf darin. Sieh nicht allein, was ich tue, sondern auch, wie schwer es mir fällt. Gib mir Feuer, Herr — doch nicht, um zu brennen, nur, um inwendig warm zu bleiben. Amen.

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 3. Oktober 1632 – Empfang

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 Es war ein grauer Morgen, feucht und still. Der Herbst kam früh in jenem Jahr; der Wind jagte Laub über den Marktplatz beim Rathaus, als wären es Reste von etwas, das nicht bleiben durfte. Keine Glocke erklang. In meiner Stube am Rande des Rosenbergs saß ich an meinem Schreibpult, als an die Tür geklopft wurde. Dreimal. Kurze Schläge. Nicht mit den Knöcheln, sondern mit dem Handrücken. Es war ein Junge, nicht älter als sechzehn. Ein Knecht des Stadtrentmeisters. Er trug ein grobes Leinentuch in der Hand, sorgfältig mit Strick zugebunden. Seine Augen blickten gesenkt. Er sagte nichts. Ich fragte nichts. Er reichte mir das Bündel, als entschuldige er sich dafür, dass er existierte. Ich nahm es an, spürte das Gewicht, roch das Brot durch das Tuch: Roggenbrot, sauer, frisch aus demselben Ofen, der die Stadt nährt – doch von dem ich nie etwas erhielt ohne vorausgehendes Blut. Im Tuch befand sich außerdem ein Lederbeutel. Darin: Zwei Taler. Klar. Schwer. Der eine mit dem kaiserl...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 14. Mai 1632 – Die letzte Frau des Hauses

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 Der Brief kam mit der Abendpost, im Regen, die Ränder schon weich von Feuchtigkeit, das Siegel von Quedlinburg aufgerissen. Der Bote war schweigsam und betrunken, seine Augen glänzten vor Mitleid oder Bier – ich weiß es nicht. Er reichte mir den Brief, nickte nur und ging. Ich erkannte die Handschrift sofort. Hans Mosel. Sein Stil war sachlich, wie immer, als schreibe er über eine Lieferung Felle oder eine Verabredung beim Rat. „Mein werter Caspar, Eure Mutter Magdalena, meine Frau, ist am 8. Mai an der Pest verstorben. Es ging schnell. Sie klagte nur zwei Tage über Fieber, dann brach die Haut auf und sie wurde schwach. Am dritten Tag sprach sie nicht mehr. Sie starb in Frieden, auf ihrem Ruhe­bett, mit einer Kerze und dem Kruzifix, das sie von Euch mitgenommen hatte. Die Beerdigung ist für den 10. Mai angesetzt, in der kleinen Kirche am Markt in Quedlinburg. Wenn Ihr und Anna kommen wollt, seid Ihr willkommen. Eure Mutter fragte in ihrer letzten Stunde noch nach Eurem So...