Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 2. Juli 1637 – Unter der Markthalle

 Goslar, 2. Juli 1637 – Unter der Markthalle

Die Luft unter der Markthalle war seit Wochen verdächtig. Man sagte, es läge an dem Regen, der zwischen den Bohlen hängenblieb, am faulenden Holz, an den Fischresten vom Freitag. Aber ich wusste es besser. Faule Luft hat Schichten, und diese hatte diesen dumpfen, durchdringenden Ton, der sogar Hunde verstummen lässt.

Ich war mit meinem ältesten Knecht, Hans, von dem Rat geschickt worden, um zu untersuchen, was wirklich unter den Bohlen gärte. Wir brachen eine Reihe Dielen an der Südseite auf, dort, wo die Bögen niedriger sind. Darunter war ein dunkles Loch, nicht mehr als eine Grube, tief und stinkend wie ein offenes Grab.

Wir fanden Lumpen, abgewetztes Leder, verklumpte Tücher, Reste von Fisch und Eingeweiden. Und mehr: einen halbvergangenen Schweinskopf, noch mit Zähnen in den Kiefern. Die Knochen waren mit Fasern und Haaren vermischt — etwas, das menschlich schien, aber nicht mehr zu erkennen war. Hans flüsterte:
„Ein Schwein. Oder Schlimmeres.“

Wir gruben mit Haken, schöpften in Ledereimern und schütteten Kalk darüber. Der Gestank wurde nicht geringer, doch es schäumte und zischte, als wären die Sünden der Stadt offengelegt worden. Wir gruben, bis wir auf den steinernen Boden stießen. Dann legten wir Holzdeckel über die Öffnung und vernagelten sie mit Nägeln aus unserem eigenen Vorrat.

Der Sekretär, Herr Thiemann, kam erst, als die Arbeit getan war. Er trug dünne Lederhandschuhe und hielt sich ein Duftsäckchen unter die Nase. Er nickte kurz.
„Gute Arbeit“, sagte er.

Als wir aber um Wasser baten, um uns zu waschen, schüttelte er den Kopf.
„Meine Pumpe ist für die Honoratioren. Ihr habt euren eigenen Eimer.“

Ich sah ihn an. Er wagte nicht, mir ins Gesicht zu blicken.
Wir gingen zurück zur Abdeckerei, tropfend vom Verfall. Die Marktleute machten einen Bogen um uns. Kinder lachten, eine Frau schrie die Hand vor den Mund. Aber ich trug den Geruch absichtlich. Es war meine Waffe. Meine Rache.

Abends wusch ich meine Hände mit Asche und Essig. Doch die Luft blieb — in meinen Haaren, unter meinen Nägeln, in der Falte meines Ärmels.
Anna fragte: „Was lag unter dem Markt?“
Ich antwortete: „Die Wahrheit.“
Sie schwieg.

In einer Woche beginnt der Sommermarkt. Neue Tücher, Käse, Kräuter und Leinen werden die Bohlen bedecken. Die Luft wird süß erscheinen.
Aber ich weiß, was darunter liegt.
Ich habe es gesehen.
Und es lebt.




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