Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 2. Juni 1637 – Rechnung für das Fleisch

 Die Sonne brannte heute über der Stadt, als wollte sie etwas sauberbrennen, das tief unter den Dächern verborgen liegt. Die Luft war trocken, doch der Geruch verdorbenen Fettes hing wie ein Dunst über dem Goseufer.

Vor vier Wochen hatte ich drei Schweine begutachtet. Tot in ihren Ställen — keine Menschenseuche, doch genug, um Panik zu säen. Es war auch ein Pferd dabei, gefunden an der Flanke des Rammelsbergs, mit Schaum am Maul und einer versteiften Halsmuskulatur.

Ich untersuchte ihre Körper mit Handschuh und Messer.
Bauchhöhlen geöffnet, Leber und Milz gerochen, Haut und Lymphen geprüft.
Ich notierte mein Urteil auf dem Pergament des Rates:
„Unsicher zum Handel. Leichennachsorge notwendig. Herkunft vermutlich verdorbenes Futter.“
Man nickte. Man versprach Bezahlung: 18 Groschen und den Rest „bei Gelegenheit“.
Das war vor vier Wochen.

Seitdem hat mein Tisch kein Fleisch mehr gesehen. Der Keller ist leer. Die Kinder essen Gerstensuppe mit Leinsamen. Meine Frau Anna sagt nichts, doch ihre Hände werden dünner, ihr Gesicht angespannter.

Ich bin kein Mann der Worte, aber heute schrieb ich:
„Mein Messer bleibt scharf, doch mein Tisch bleibt leer.
Ist dies eure Gerechtigkeit, Herren?“

Ich faltete das Pergament sorgfältig. Keine Drohung. Kein Zorn. Nur die Feststellung.
Ich wusste nicht, ob sie antworten würden.

Am Abend wurde an die Tür geklopft. Nicht hart. Ein Klopfen. Dann Stille.
Vor der Schwelle stand ein Junge aus der Brauergilde. Er trug einen abgetragenen Sack, nicht größer als ein Helm.
Er verneigte sich nicht. Er sprach nicht.
Ich öffnete den Sack. Gerste. Ein halber Sack. Keine Münze. Kein Brief. Kein Wort.
Ich nahm es an. Nicht weil ich es wollte, sondern weil ich es musste.

Ich bin der Mann, der das verdorbene Fleisch wegschneidet.
Der die verrottenden Eingeweide entfernt, bevor die Stadt zu stinken beginnt.
Der die Tiere untersucht, auf die niemand blicken will.
Der schreibt, was lebt und was stirbt.
Doch für sie bin ich kein Name. Kein Amt. Kein Mann.
Nur jemand, den man mit Getreide bezahlt, wenn etwas übrig ist.

Nachtrag (Abend):
Das Messer liegt auf dem Brett. Es ist scharf. Immer scharf.
Aber auf dem Tisch liegt kein Fleisch.
Manchmal frage ich mich, ob die Stadt je begreift,
dass auch ein Scharfrichter Hunger kennt.




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