Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 20. März 1637 – Vorladung beim Rat

 Heute wurde ich ins Rathaus gerufen. Ein Bote kam früh am Morgen, noch bevor das Licht den Innenhof berührte. Sein Klopfen an der Tür weckte nicht nur mich, sondern auch Anna. Sie sah mich aus dem Bett an, ihre Augen bereits voll Sorge, bevor ich meine Stiefel angezogen hatte.
„Was wollen sie von dir?“, fragte sie.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Was sie immer wollen. Mehr Geständnisse. Weniger Zeit.“

Auf dem Marktplatz war es kalt. Die Buden standen leer, die Steine glänzten von einer dünnen Schicht Morgenfeuchte. Der Rat von Goslar tagt in der großen Halle über dem alten Rathaus, wo Licht durch hohe Fenster fällt, aber Wärme nie hineindringt. Der Boden knarrte unter jedem Schritt, als wehre er sich gegen das Urteil der Menschen.

Drinnen saßen sie bereits. Bürgermeister Henning Cramer am Kopf des Tisches, wie immer die Hände gefaltet vor sich, als betete er ständig, hörte aber niemals zu. Rechts von ihm der Sekretär Kleine, ein schmächtiger Mann mit Augen, die alles aufnehmen und doch nichts verraten. Links zwei Ratsherren, Zeidler und Friese, beide mit dem gelassenen Blick von Männern, die zuviel wissen, um noch zu erschrecken.

„Meister Kruse“, begann Cramer, ohne von den Papieren aufzublicken, „wir haben Ihren Bericht über den Prozess gegen Gunda Meinhof und Ilse Paeckers gelesen. Die Verhöre dauern zu lange. Die Geständnisse sind mager.“
Mager. Als sei die Wahrheit eine Wurst, die man nach Gewicht bemisst.
Ich senkte den Kopf, aus Pflicht mehr als aus Überzeugung.
„Die Frauen sind willensstark. Und die Fakten sind dürftig.“
Cramer blickte auf, seine Augen kalt.
„Starke Willenskräfte sind ein Zeichen für Pakte mit dem Bösen.“

Das hatte ich schon gehört.
Ich habe die Formeln gelernt, die Klänge des Glaubens an ein System, das seine Schuldigen kennt, noch ehe von Schuld die Rede ist.
Ich sagte:
„Der Schmerz bringt Worte, aber nicht immer Wahrheit.“

Nach meinem Satz legte sich schwere Stille. Nur das Kratzen einer Gänsefeder über Papier war zu hören, während der Stadtschreiber Protokoll führte, das niemand je wiederliest. Dann sprach der Sekretär, seine Stimme flach, fast sanft:
„Die Wahrheit ist das, was wir für nötig halten.“
Darin lag kein Zweifel. Keine Zögerlichkeit. Nur Funktion.
Wahrheit ist nicht, was ist — sondern, was sein muss.

Ich wusste, was zu tun war.
Ein kleines Bündel Dokumente wurde zu mir geschoben. Obenauf lag der Befehl zur Folter. Die Formulare waren größtenteils schon ausgefüllt. Nur meine Unterschrift fehlte. Mein Siegel. Meine Zustimmung.
Ich unterschrieb.
Was hätte ich sonst tun sollen?

Als ich mich erhob, noch um zu gehen, sprach Cramer eine letzte Zeile:
„Die Stadt vertraut auf Ihre Tatkraft.“
Ich nickte. Aber ich fühlte nichts als Leere.

Draußen war das Licht inzwischen heller geworden. Die Sonne stand niedrig, die Schatten lang. Auf dem Platz spielten zwei Kinder mit einem hölzernen Rad — sie lachten. Ich fragte mich, wie lange sie noch frei würden spielen. Wie lange ihre Worte frei blieben von Schmerz.

Zu Hause fand ich Anna im Garten, beim Rückschnitt des Rosenstrauchs, der nie wirklich blüht. Sie sah auf, ihre Hände voll Dornen.
„Was haben sie gesagt?“
Ich antwortete nicht gleich. Erst als ich meinen Mantel abgelegt hatte, sagte ich:
„Sie verlangten Wahrheit. Ich gab ihnen Papier.“

Am Abend wachte ich lange am Feuer. In meiner Hand das Siegel, noch rot vom Lack.
Meine Kinder schliefen.

Morgen beginne ich von Neuem. Nicht um zu wissen. Sondern um zu tun, was man von mir verlangt. 




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