Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 1. Mai 1637 – Schützenfest
Die Stadt war früh auf den Beinen. Noch vor dem Läuten der Glocke ertönten Stimmen auf der Straße, Kinder mit Zweigen, Frauen, die ihre Körbe mit gebackenem Brot und Flaschen Bier füllten. Der Harz- und Schießpulvergeruch hing bereits in der Luft. Es war Schützentag – der Tag, an dem die Stadt ihre Gilde ehrt, die Fahnen schwingt und die Schützen preist.
Vom Haus am Rosenberg blickte ich über die Stadt. Die Dächer glänzten vom Morgentau. Am Fuß des Hangs gingen die Gildengenossen in ihren Sonntagstrachten: Rot, Blau, Dunkelgrün. Trommeln schlugen, das Blech der Hörner schmetterte zwischen den Fachwerkhäusern. Die Fahnen wurden hochgehalten – das Stadtwappen, die Farben der Bäcker, Schmiede, Gerber.
Ich nahm Hans Caspar mit nach unten. Er war jetzt sechs Jahre alt und voller Erwartung. Sein Haar war noch nass vom Waschen, sein Gesicht ernst, wie nur Kinder blicken, die etwas Bedeutendes erwarten.
Auf dem Marktplatz standen Bänke und Fässer. Über dem Tor beim Zwinger hatten sie hölzerne Vögel aufgehängt – mit grell bemalten Federn und einer Krone auf dem Kopf des größten. Der Wettkampf sollte beginnen: Wer den Vogel zuletzt abschoss, wurde „König“.
Hans Caspar hielt meine Hand. Seine Augen verfolgten die Bogenschützen, wie sie ihre Gewehre luden und ihre Mützen abnahmen vor dem ersten Salut.
„Warum tragen sie Schwerter?“, fragte er.
„Weil es ein Fest ist“, sagte ich.
„Und du? Trägst du deines?“
Ich legte die Hand auf die Scheide an meiner Seite. „Nicht heute.“
Wir sahen, wie die ersten Schützen ihre Schüsse abgaben. Holz splitterte, Stücke fielen. Das Volk jubelte. Bier floss. Die Kinder kletterten auf Bänke, um besser sehen zu können.
Als Hans Caspar fragte: „Dürfen wir auch mal mitmachen?“, sah ich ihn an. Seine Augen glänzten vor Verlangen — dazugehören zu dürfen, ein Gewehr zu tragen, auf etwas richten zu dürfen und Applaus zu ernten.
Ich beugte mich zu ihm und sagte: „Wir schießen nicht auf Holz.“
Er verstand es nicht sofort. Sein Blick blieb bei dem hölzernen Vogel hängen, der an der Stange wackelte, halb getroffen.
„Was meinst du?“, fragte er.
Ich antwortete leise: „Wir schießen nicht auf Dinge, die man Spaß nennt. Wir treffen Fleisch, nicht Holz. Stille, keine Musik.“
Er wandte den Blick ab. Sein Gesicht wurde verschlossener. Er verstand mehr, als ich gehofft hatte.
Nach dem Fest gingen wir zurück. Entlang der Breite Straße erklangen Trinklieder, jemand hatte einen Dudelsack hervorgeholt. Ich fühlte mich nicht mehr als ein Teil der Stadt als ein Stein in der Mauer.
Abends am Tisch erzählte Hans Caspar nichts vom Fest. Schweigend aß er seinen Brei. Anna bemerkte es, sagte aber nichts. Sie verstand sein Schweigen.
Bevor er schlafen ging, fragte er: „Wenn ich groß bin… muss ich dann auch deine Arbeit tun?“
Ich hatte lügen wollen, ihn schützen wollen.
Aber ich sagte: „Nur wenn das Schwert dich wählt.“
Er nickte, drehte sich um — und ich wusste: es hatte ihn schon gewählt.

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