Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 29. Juni 1636 — Dietrich Henning, seine letzten Worte

Der Himmel über dem Hochgericht war schwer, jene dumpfe Schwüle vor einem Gewitter, in der sich Schweiß mit Eisen und Blut mischt. Ich war früh aufgestanden – nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil die Nacht mich geweckt hatte, mit dem Echo von Hennings Stimme, die in der Ulrichskapelle widerhallte wie ein Riss im Verstand. Er hatte geschrien, nicht aus Bosheit, sondern aus Angst, aus Schmerz, aus etwas, das jenseits der Vernunft liegt. Ich erinnere mich, wie er, noch festgeschnallt auf der Bank, den Kopf schüttelte wie ein Tier, das von unsichtbaren Wespen gestochen wird.
Heute sollte ich das Schwert nehmen.

In den Tagen nach seinem „Geständnis“ hatte er nichts mehr gesprochen. Der Prediger – ein magerer Mann mit zitternden Händen – behauptete, der Teufel habe ihn verlassen. Doch ich sah nur, was der Schmerz hinterlassen hatte: ein leeres Gefäß, zitterndes Fleisch, umgeben von Augen, die nichts mehr erkannten. Der Rat hatte das Urteil unterzeichnet: Enthauptung, gefolgt von Verbrennung des Körpers. Nicht wegen Hexerei – seine Sünden waren nie klar benannt – sondern wegen Umgangs mit dem Bösen, wegen der Beschwörung von „Stürmen“ und der Verfluchung der Sakramente. Letzteres wog, wie immer, am schwersten.

Ich trug meine Arbeitskleidung: Lederschürze, schwarzen Überrock, meine Handschuhe mit den verstärkten Handrücken. Das Schwert hatte ich gestern erneut geschärft, mit Öl eingerieben, damit es seinen Weg ohne Zögern finden würde. Die Gehilfen standen bereits am Galgenhügel: Bastian hielt das Pferd, Hans trug den Kessel mit Pech. Der kleine Hans Caspar sah unter einem Baum zu. Ich hatte ihn gebeten, anwesend zu sein, nicht weil er lernen musste – sondern weil ich hoffte, dass seine Anwesenheit mir etwas Menschliches bewahren würde.

Henning wurde in einem hölzernen Karren gebracht, liegend, wie ein Sack Gerste. Er konnte kaum noch stehen. Seine Knie gaben nach, als man ihn zum Block führte. Zwei Männer aus der Wache mussten ihn stützen. Ich sah seine Schulter, wo die Haut von den Daumenschrauben noch offenlag. Die Rippen stachen durch das Hemd. Er hatte nichts Menschliches mehr. Nur die Augen, die so hell aufblitzten beim Anblick des Scheiterhaufens, erinnerten noch daran, was er einst gewesen war.

„Habt Ihr noch etwas zu sagen, Dietrich Henning?“ fragte der Prediger.
Ein schwaches Röcheln, dann:
„Der Wind... ist nicht von mir.“
Das war alles.

Ich befahl ihm zu knien. Er zitterte, doch er gehorchte. Ich legte sein Haupt auf den Block, zog das Haar zur Seite und sah die Narbe des Foltereisens über seinem Ohr. Ich sprach ein kurzes Gebet – nicht für ihn, sondern für mich, aus Gewohnheit, um meine Hand zu festigen.
„Gott vergebe uns beiden“, murmelte ich.
Dann hob ich das Schwert.

Es gab keinen Schrei. Der erste Schlag trennte den Kopf nicht völlig. Sein Körper versteifte sich, die Muskeln zuckten. Dunkles Blut quoll warm über das Holz. Ich setzte meinen Fuß auf seinen Rücken, hob erneut und vollendete die Arbeit. Der Kopf rollte vom Block, der Mund halb geöffnet. Ich sah nicht in die Augen.

Die Umstehenden – ein Dutzend schweigende Bürger aus dem Rosentorviertel – wandten ihre Gesichter ab. Nur ein Kind starrte, bis seine Mutter es am Arm fortzog.
Die Knechte schleppten den Körper zum Scheiterhaufen. Das Pech fing rasch Feuer. Der Geruch – verbranntes Fleisch, Haare, Eingeweide – war alt, vertraut, und doch so abstoßend wie immer. Ich zog mich an den Rand des Feldes zurück, setzte mich auf die Steinmauer und blickte ins Feuer.

Hans Caspar weinte heftig. Er wollte nach Hause.
Ich sah ihn an, doch ich sagte nichts. Die Flammen leckten an dem Schädel, der langsam aufplatzte. Eine Krähe ließ sich auf der Eiche über uns nieder.
„Nun“, sagte ich schließlich, „nun ist er bei Gott. Und wir nicht.“

Dann gingen wir heim. Ich wusch meine Hände im Regenwasser, doch der Geruch blieb. In dieser Nacht träumte ich nicht vom Feuer. Ich träumte vom Wind – endlos, ohne Richtung, ohne Stimme. 






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