Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 24. Dezember 1631 – Christnachtgottesdienst

Es war bitterkalt an jenem Abend. Der Schnee hatte sich wie ein grauer Schleier auf die Dächer gelegt, und der Himmel über dem Markt hing schwer und tief, voller Stille und Erwartung. Die Glocken der Marktkirche läuteten träge, als fröstelten sie selbst vor dem, was sie verkünden mussten. Ich ging, wie jedes Jahr, ohne viele Worte, mit Anna an meiner Seite. Wir sprachen nicht auf dem Weg. Unser Atem war in der Frostluft sichtbar; unsere Schritte dumpf auf dem gefrorenen Stein.

Drinnen in der Kirche war es voll. Die Menschen drängten sich auf den Bänken, blickten scheu umher, sangen mit gedämpften Stimmen. Ich fand einen Platz ganz hinten — wo ich immer sitze — neben einer alten Frau mit zitternden Händen und einem Bettler, der noch nach Schwefel roch. Er hatte seine Mütze abgenommen und sah den Prediger an, als ob dieser ihm persönlich Vergebung brächte. Die Frau murmelte unverständliche Gebete.

Der Prediger sprach von Frieden. Von Licht, das die Finsternis nicht vertreiben konnte, von der Ankunft des Kindes, das selbst im Stall nicht verstoßen wurde. Er rief auf zu Sanftmut, zu Barmherzigkeit, zu Liebe unter den Menschen.

Doch ich hörte etwas anderes.
In meinen Ohren klangen Stimmen, die ich niemals vergessen werde. Kein Gesang, kein Lobpreis — sondern Stöhnen. Das Rasseln von Ketten. Die letzten Schreie vor dem Schwert. Der stumme Atem eines Jungen, dessen Kopf ich hielt, bevor ich ihn vom Leib trennte. Das Flüstern einer Frau, kurz bevor das Feuer ihr den Atem raubte.

Ich nickte bei den Worten des Predigers, aus Gewohnheit. Doch in meinem Inneren sangen andere — jene, die ich in diesem Jahr zum Schweigen gebracht hatte.

Ich fühlte meine Hände zittern. Nicht vor Kälte. Nicht vor Schuld. Vor etwas Tieferem. Vor etwas, das selbst Anna mir nicht aus dem Herzen beten konnte.

Und dann — unter der hölzernen Bank, im Dunkeln — spürte ich ihre Hand. Warm. Fest. Still.
Anna hielt meine Hand. Ohne ein Wort. Ohne mich anzusehen.

Das war genug.




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