Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 19. Februar 1630 – Der Sturz des Meisters
Ich weiß nicht genau, wann ich lernte, was ich jetzt weiß.
Es schlich sich in meine Hände, wie das Eisen die Kälte aufnimmt: langsam, ohne Gnade. Und immer war er da – mein Vater. Caspar der Zweite. Schweigsam wie ein Schatten. Ein Mann von Gewicht, ohne dass seine Stimme je laut wurde. Er trug sein Handwerk wie ein Schmied seinen Hammer: als Verlängerung seines Wesens.
Als ich noch ein Junge war, nahm er mich manchmal mit hinaus auf die Felder hinter dem Breiten Tor. Nicht zum Galgen, sondern an den Ort dahinter, wo Tiere begraben wurden und wo die Luft stets schwer von ranzigem Fett hing. Er sagte dann nichts. Er zeigte. Und ich sah. Sah, wie er ein Seil mit dem Rücken des Messers anschnitt. Sah, wie er die Schärfe an seinem Daumen prüfte. Sah, wie er das Schweigen nicht brach, selbst wenn die Krähen schrien. „Du darfst die Arbeit nicht mit Worten füllen“, sagte er einmal. „Sonst klingt es, als würdest du zweifeln.“
Meine Mutter Magdalena war anders. Sie erfüllte jede Ecke des Hauses mit Klang. Nicht laut – aber spürbar. Das Schlagen von Teig, das Fegen des Bodens, das leise Singen bei der Wäsche. Ihre Hände rochen nach Sauerteig, nach Beifuß, nach Honig und Wolle. Wenn Vater das Eisen polierte, legte sie ihm die Hand auf die Schulter. „Du hast es wieder sauber bekommen“, sagte sie dann. Nicht spöttisch. Nicht schmeichelnd. Nur: sachlich. Als wüsste sie, dass er genau das brauchte. So hielt sie ihn menschlich.
Ich war zwölf, als er mich zum ersten Mal in die Ulrichskapelle mitnahm. Die Kapelle lag kalt und verlassen, die Steine wie Knochen unter unseren Füßen. Er trug an diesem Tag kein Schwert. Nur eine Lederrolle mit Werkzeugen. Ich dachte, er würde mir zeigen, wie das Rad funktionierte. Doch er sagte nichts. Er wies auf den Boden, wo Ketten an einem Eisenring befestigt waren. „Setz dich dorthin“, sagte er. Ich gehorchte. Er legte mir ein Seil um das Handgelenk. Nicht fest. Nicht schmerzhaft. Aber sicher. „Fühlst du das?“, fragte er. Ich nickte. „Das ist es, was sie fühlen. Bevor sie sprechen.“ Dann löste er es. „Und jetzt weißt du mehr als die meisten Prediger.“
Am selben Abend saß ich mit roten Handgelenken am Tisch. Mutter sah es. Sie legte ihre Hand auf meine. „Weißt du, warum er das getan hat?“, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. „Weil er nicht will, dass du denkst, es sei ein Spiel.“ Damals verstand ich es nicht. Jetzt schon.
Er lehrte mich den Unterschied zwischen einer Wunde, die heilt, und einer Wunde, die straft. Wie man das Rad schmiert, ohne dass es knarrt. Wie man den Atem anhält, wenn das Messer den Hals berührt – damit die Hand nicht zittert. Er sprach selten während der Arbeit. Aber abends, wenn er seine Werkzeuge reinigte, ließ er mich zusehen. Ich durfte sie halten lernen. Zuerst die Zange. Dann das Messer. Erst Jahre später das Schwert. Er legte meine Finger um den Griff, drückte sanft. „Nicht Kraft“, sagte er. „Sondern Richtung.“
Ich erinnere mich an einen Winter, den kältesten, den ich je erlebt habe. Das Haus war eingeschneit, die Gose bis zur Mitte gefroren. Mutter kochte jeden Tag denselben Brei, mit Leinsamen und alten Birnen. Vater hatte wochenlang keinen Auftrag. Die Stadt hatte Angst, sprach von den Schweden, von Einnahme und Plünderung. Und doch stand er jeden Morgen zur selben Stunde auf. Er schärfte das Schwert, polierte die Schnallen, prüfte das Leder. „Wenn die Arbeit kommt, musst du bereit sein“, sagte er. Daran glaubte er.
Ich war sechzehn, als ich mein erstes Urteil als Knecht meines Vaters vollstreckte. Nicht mit seinem Schwert. Sondern mit einem kleinen Messer, auf Befehl. Ein verurteilter Schmuggler, schon sterbend an der Pest, sollte „zum Exempel“ gezeichnet werden, bevor sein letzter Atemzug kam. Meine Hand zitterte. Ich fühlte, wie das Messer wegglitt, fast zu tief. Doch er sagte nichts. Nur: „Du hast es getan.“ Und das reichte. Kein Lob. Keine Strafe. Nur Anerkennung. Er wusste, dass ich wusste.

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