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Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 15. März 1642 – Anna und die Jungen

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 Der Morgen war noch kalt, die Luft grau und stumpf wie Blei, als Anna mich weckte — nicht sanft, sondern laut, mit einem Ton, den ich nur höre, wenn etwas nicht stimmt. Ich fuhr hoch, Herz klopfend, Füße auf dem kalten Boden. Sie stand an der Tür, ihr Gesicht blass, das Haar lose unter ihrer weißen Schlafhaube. „Die Jungen“, sagte sie. „Sie sind im Hof. Mit einem Messer.“ Ich wusste sofort, was sie meinte. Ich ging barfuß hinaus, durch die Küche, in der das Feuer noch nicht entzündet war und der Geruch von Asche und kalter Suppe hing. Draußen, zwischen dem Reif auf den Feldsteinen und dem nassen Hühnerdreck, standen Hans Caspar und Wilhelm über eines der Hühner gebeugt. Das Tier lag auf der Seite, gelähmt vor Angst, und aus seinem Hals ragte das rostige Küchenmesser, das sie aus dem Schrank genommen hatten. Sie hatten kein Messer von mir benutzt. Kein Schwert. Aber die Geste war dieselbe. Sie sahen auf, als ich näherkam. Ihre Hände waren rot von Blut und Dreck, ihre Augen gro...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 14. März 1642 – Drei auf einmal

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 Heute Morgen, noch vor dem Glockenläuten der Marktkirche, wurde das Urteil gebracht. Drei Frauen, verurteilt wegen Diebstahls, Unzucht und wiederholter Widersetzlichkeit. Der Kleine Rat hatte einstimmig entschieden: Hängung, gleichzeitig, auf dem Hochgericht oberhalb des Breiten Tors. Die Schriften waren unterzeichnet, der Befehl eindeutig. Und doch nagte etwas in meinem Inneren – nicht wegen des Urteils, sondern wegen der Eile. Als müsse das Recht plötzlich raschen Schritt halten. Wir begannen im Morgengrauen. Es regnete leicht, ein Nieseln, das den Boden weich machte. Die Erde war schlammig, glitschig, doch das Schafott war noch trocken genug unter unseren Stiefeln. Alles musste genau verlaufen. Ein Fehler, ein falscher Knoten, ein Fehltritt – und das Volk würde murren, flüstern, spotten. Oder schlimmer: Fragen stellen. Ich verteilte die Aufgaben wie immer. Bastian, mein erster Knecht, bekam das Seil. Er hatte es gestern noch neu geflochten, mit frischem Flachs und gesponnene...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 24. Februar 1642 – Begegnung mit dem Stadtarzt

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 Die Luft war heute trocken, unnatürlich trocken für diese Jahreszeit. Kein Schnee, kein Regen. Nur ein dünner Wind, der wie Asche über das Straßenpflaster strich. Ich war gerade dabei, den Hof zu reinigen – ein Schweinekadaver war am frühen Morgen bei der Abdeckerei abgeladen worden – als ein Junge vom Rat herbeigelaufen kam, mit roten Wangen und einem Pergament in der Hand. Kein Siegel, nur der Name „Keller“ und ein Ort: Hinterzimmer des Gasthofs Zum Goldenen Adler . Ich wusch meine Hände, zog einen sauberen Mantel an – und ging. Dr. Keller erwartete mich dort, wie geschrieben. Nicht in seinem eigenen Haus, sondern in der Abgeschlossenheit eines Zimmers über einer Herberge. Es roch nach altem Wein und Honigtabak. Er stand am Fenster, im letzten Winterlicht, und blickte über die Breite Straße, als suche er nach etwas, das längst verschwunden war. Als ich eintrat, drehte er sich langsam um. Er trug keinen Hut – ungewöhnlich – und sein Haar lag vom Schweiß platt an. In seinen Aug...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 5. Januar 1642 – Der Schandpfahl

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 Der Wind schnitt wie eine kalte Nadel durch die Marktstraße. Die Stände des letzten Markttages waren noch nicht ganz abgebaut, und der Geruch von Fisch, Speck und saurem Wein hing noch in der Luft. Ich ging über den Platz, wie ich es oft tue – nicht als Käufer oder Zuschauer, sondern als einer, der sieht, wat anderen entgeht. Und da stand er, wie immer: der Pranger. Der Schandpfahl. Eine hölzerne Säule, in einem Sockel aus hartem Stein verankert, mit einem eisernen Ring auf halber Höhe und Spuren von Fesseln an den Seiten. Heute sah ich etwas anderes. Der Fuß, sonst verborgen unter Stroh oder Schlamm, zeigte einen tiefen Riss. Nicht oberflächlich. Nicht harmlos. Ich hockte mich hin und fühlte mit dem Daumen: Das Holz wich nach. Feucht, weich. Eine ältere Frau, eine Marktfrau, sagte leise hinter mir: „Ein Betrunkener ist an Silvester dagegengefallen. Sie haben ihn mit gebrochener Nase nach Hause geschleppt.“ Ich nickte. Es verwunderte mich nicht. Der Pranger war öfter Kulisse a...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 19. September 1641 – Der Ruf aus Wolfenbüttel

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 Aus Wolfenbüttel kam ein Bote, früh am Morgen, verschwitzt, sein Mantel mit Staub befleckt. Er brachte einen versiegelten Brief, unterzeichnet vom Stadtrat von Wolfenbüttel und beglaubigt mit dem Wappen Herzog Augusts. Ihr Scharfrichter war gestorben, so hieß es — Dysenterie, schnell und schmutzig, wie es in Notzeiten üblich ist. Sie baten mich um Beistand. Nicht nur mich, sondern auch den Scharfrichter von Halberstadt, einen gewissen Georg Heinrich Schlott. Wir kannten einander nur dem Namen nach, aber man hielt uns beide für erfahren und zuverlässig. Es war nichts Ungewöhnliches: Wenn eine Stadt ihren Henker verlor, wandte man sich an die Nachbarstädte. Der Tod muss weitergehen, auch wenn er keine Hände mehr hat. Ich ritt am nächsten Tag fort. Anna gab mir getrocknete Wurst und ein kleines Krüglein Bier mit. Sie sagte: „Sei still in dir, Caspar. Das ist das Beste, was du sein kannst.“ Ankunft in Wolfenbüttel – 17. September Die Stadt lag düster unter einem tiefhängende...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 3. Mai 1641 – Essen als Bezahlung

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 Heute Morgen, noch sehr früh, klopfte ein Knecht an unsere Tür. Er hieß Friedrich, wenn ich mich recht erinnere, und hatte ein blutdurchtränktes Tuch um seine Hand gewickelt. Er arbeitete für den Brauer an der Gose, sagte er, und hatte sich an einem Eisenring eines Fasswagens geschnitten. Seine Augen wirkten fahl, seine Hand zitterte unter dem Lappen. Das Blut hatte sich mit dem Spreu an seinem Ärmel vermischt. Ein Duft von Hefe hing um seine Schultern. Ich sah auf seine Hand hinab und erkannte, dass das Fleisch bis in die Handfläche gespalten war. Kein Knochen getroffen, aber tief. Er würde die Wunde nicht lange trocken halten können. Anna brachte Wasser; ich reinigte die Verletzung, legte Honig und Beinwell darauf und wickelte sie in frisches Leinen. Er biss die Zähne zusammen und sagte kaum ein Wort. Als alles getan war, sah er mich schräg an und fragte, was ich für meine Mühe haben wollte. Ich zuckte mit den Schultern. „Nichts“, sagte ich. „Kein Geld heute.“ Gegen Mittag st...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 2. April 1641 – Die Katze in der Ecke

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 Sie sah mich nicht an, als sie vorgestern hereingebracht wurde. Bregje Menze, Witwe eines Feldwächters, vierundfünfzig Jahre alt. Klein von Gestalt, mit grauen Zöpfen, die wie Stricke ihren Rücken hinabfielen. Ihr Gesicht war scharf, wie ein Messer, das zu oft geschliffen wurde. Sie hatte Hände wie Krallen – nicht wie eine Katze, sondern von der Arbeit. Sie hatte drei Kinder großgezogen und zwei begraben. Die Klage kam von einer Nachbarin: das Kind sei krank geworden nach einem misslungenen Butterkneten. Danach folgten die üblichen Aussagen – Träume von Kratzen, ein Huhn, das nicht mehr legte, ein Kind, das plötzlich schwieg. Und also, wie immer, kam der Befehl. Ich stellte keine Fragen mehr nach Schuld. Das tun wir in diesen Jahren nicht mehr. Wir fragen nach Bekenntnis. Sie wurde auf der Holzbank festgebunden, die Füße entblößt. Die Luft war kalt in der Ulrichskapelle, doch meine Hände waren warm von der Arbeit. Ich wählte an diesem Tag kein Eisen, sondern die alte Meth...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 3. März 1641 – Junge mit Feuer

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 Er kam am frühen Morgen zum Tor, mit einem Jutesack über der Schulter und Schlamm bis zu den Knien. Sein Name war Matthes. Noch keine zwanzig. Seine Stimme kratzte vor Kälte und Schüchternheit. Doch seine Augen – sie brannten. Nicht aus Zorn oder Stolz, sondern aus etwas anderem: einer Mischung aus Trotz, Ehrgeiz und Angst. Er sagte: „Mein Vater diente bei Marten Voigt, dem alten Scharfrichter von Dannenberg.“ Ich nickte. Marten ist mein Schwager. Matthes hatte das Handwerk nicht gelernt, sagte er, aber er hatte zugesehen. Er hatte seinem Vater geholfen beim Beseitigen von Tieren, beim Spalten von Knochen, beim Tragen von Seilen. Und nun war sein Vater tot, von einer Leiter gestürzt beim Aufhängen von Schafsfellen. Der Rat hatte keine Entschädigung gewährt. Und die Nachbarn hatten ihn gemieden. Ich fragte ihn, warum er zu mir gekommen sei. Er blickte auf und sagte: „Weil das Feuer nirgends sonst mehr brennt.“ Er durfte bleiben. In der ersten Woche gab ich ihm einen Hammer un...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 8. November 1640 – Vor einem Scheiterhaufen

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 Der Morgen hatte eine graue Haut. Nebel stieg aus der Gose und zog wie ein gespenstischer Schleier durch die Rosenbergstraße, als hauchten die Toten selbst ihren Atem noch über die Stadt. Ich war früh auf; das Feuer musste vor Mittag stehen, so hatte es der Rat befohlen. Die Frau – Grietke Klenze – saß noch eingesperrt in der Ulrichskapelle, an den eisernen Ring gekettet. Seit gestern hatte sie nicht mehr gesprochen, auch nicht mehr geschrien. Nur ihre Augen, die sich bei jedem Schritt auf der Treppe spannten wie ein Seil, das jeden Moment reißen konnte. Ich trug den Auftrag wie immer schweigend. Für das Volk ist das Feuer Reinigung, Gerechtigkeit. Für mich ist es Arbeit, Rechenwerk. Der Zimmermann brachte das Holz: trockenes Fichtenholz aus dem Viertel beim Zwinger, dazu ein Bund Reisig und einige Buchenblöcke. Ich zahlte ihm einen Taler und sprach kein Wort. Er sah nicht auf, und ich auch nicht. Es war Arbeit, nichts mehr. Wir wussten beide, dass dieses Holz nicht zur Wärme di...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 8. November 1640 – Frauenhaus

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 Die Morgenluft war scharf und metallisch. Eine blasse Sonne hing über der Stadt wie eine stumpfe Münze. Ich war zum Frauenhaus am Rande des Spitals gerufen worden, wo die Nonnen ihre Kranken und Armen beherbergten. Eine der Abortgruben – an der Westmauer, nahe der Krankensaal – stand seit Wochen zu hoch. Sie hatten Sand über die Luke gestreut, Stroh darüber geworfen, Gebete gegen den Gestank gesprochen. Doch nichts hatte geholfen. Als ich ankam, standen zwei meiner Knechte bereits mit Haken und Stangen bei der Grube. Die Luft war so schwer, dass selbst die Fliegen träge flogen. Eine Nonne, den weißen Schleier über Mund und Nase gezogen, kam auf mich zu. Ihr Name war, wenn ich mich recht erinnere, Schwester Maria. Ihre Augen waren wässrig, doch scharf. Sie sagte: „Meister Kruse, Ihr seid doch Henker von Beruf?“ Ich nickte. „Und nun kommt Ihr, um bei Frauen den Mist zu räumen.“ „Der Rat verlangt, dass ich auch diese Arbeit tue.“ Sie nickte langsam und hielt sich die Nase mit ...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 20. September 1640 – Geburt von Catharina

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 Heute ist unsere Tochter geboren. In der Schlichtheit dieser Worte liegt eine Welt aus Dankbarkeit, Freude und Verwunderung. Die frühe Sonne erhob sich kaum über die Dächer des Rosentorviertels, als das erste Weinen des Kindes unsere Kammer erfüllte und unsere Herzen bewegte. Ihr Name ist Catharina, benannt nach meiner Großmutter – der Frau, die unsere Familie in dieser Stadt Fuß fassen ließ – und nach der wir noch immer mit Liebe und Ehrfurcht sprechen. Annas Schwangerschaft verlief diesmal ohne Sorgen, und dafür preise ich den Herrn. Welch ein Unterschied zu jenem anderen, dunklen Jahr. Erst zwei Winter sind vergangen, seit wir unseren Sohn Hans Christoph in die kalte Erde legten, kaum geboren, kaum mit Atem erfüllt. Der Schatten dieses Verlustes lastete lange auf Anna und auch auf mir. Und doch legten wir unsere Hoffnung immer wieder in Gottes Hände. Heute wurden unsere Gebete erhört. Anna war ruhig heute Morgen, stärker als ich sie je sah. Sie hielt meine Hand, drückte sie b...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 1. Mai 1640 – Walpurgisnacht

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 Die Luft ist heute seltsam. Der Wind ist warm, unruhig – als käme er aus dem Innern der Erde. Aus dem Harz klingt ein Grollen, das kein Donner ist. Und über dem Gipfel des Brockens, dem höchsten Berg im Gebirge, tanzen merkwürdige Lichter. Kein Wetter, sagt man. Kein Sturm, kein Blitz. Hexenfeuer. Die Menschen flüstern. Selbst jene, die sich gebildet nennen, blicken auf, wenn die Dunkelheit fällt. Kinder schlafen schlecht, träumen von Frauen mit feurigen Augen. Mütter hängen Kreuze an die Wiegen und beten laut. Väter trinken sich Mut an am Herdfeuer und schlagen dreimal auf das Holz, wenn der Wind im Schornstein klagt. Es ist Walpurgisnacht. Die Nacht, von der man sagt, der Teufel ziehe über die Berge, und die Hexen tanzten ihm entgegen, nackt, schreiend, mit Salben und Kräutern, Böcken und Schweinen und verlorenen Seelen. Eine alte Frau in der Gosegasse sagte heute ihrer Nachbarin, sie höre nachts ihre Ziegen mit menschlichen Stimmen sprechen. Ein Müller behauptete, seine T...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 9. Januar 1640 – Der Müller

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  Vor vier Tagen war in jener Nacht Schnee gefallen. Kein weiches, stilles Tuch, sondern scharfe, unregelmäßige Flocken, die sich zwischen den Pflastersteinen und in den Falten meines Mantels sammelten. Die Stadt roch nach Holzrauch und Eis. Man sprach nicht mehr laut vom Hunger, aber man fühlte ihn in allem: in den leeren Marktständen, den dürftigen Wintersuppen, den roten Nasen der Kinder mit ausgetretenen Schuhen. Es gab kein Mehl. Kaum Bier. Selbst die Ratten schienen ihre Löcher nicht mehr zu verlassen. Und dann brachte man Sigebert Meurer . Ein Müller. Kräftiger Mann, breit in den Schultern, mit Schwielen so hart wie Leder auf den Handflächen. Seine Mühle lag am Wasser bei der südlichen Stadtmauer, und man hatte seit Monaten gemunkelt, dass seine Säcke voller waren, als er zugab. Man sagte, er habe Korn versteckt, während andere ihre Kinder begraben mussten. Dass er Mehl an Soldaten außerhalb des Tores verkauft habe. Dass seine Frau neue Schuhe trug. Ich glaubte nichts oh...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 24. Dezember 1639 – Weihnachtsmahl

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 Der Schnee fiel leicht an jenem Abend — nicht wie eine Decke, sondern wie ein Schleier. Die Fenster beschlugen schon früh, und in der Straße hörte man das Getrappel von Menschen, die eilig ihre letzten Einkäufe machten. Im Haus brannte das Feuer hoch, und der Duft von Nelken, Zwiebeln und warmem Bier zog wie eine Wolke durch die Räume. Anna hatte den ganzen Tag in der Küche gestanden. Kein Klagen, kein Seufzen — ihre Bewegungen waren fließend, wie in einem Ritual, das sie ihr ganzes Leben lang kannte. Sie sang leise, während sie die Blutwurst schnitt, den Brei rührte, das Fett schmelzen ließ. Ihre Schürze war voller Mehl und Dampf, ihre Wangen glühten von Hitze und Arbeit. Auf dem Tisch standen drei Schüsseln: Blutwurst mit Zwiebeln — dunkel und herzhaft. Graupenbrei mit Speckfett — salzig und schwer. Apfelklöße mit Nelken — süß, dampfend, würzig wie Erinnerung. In einem Steinkrug: warmes Bier mit Ei. Trüb, dick, aber tröstlich. Wir tranken es langsam, jeder Schluck ein Sch...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 11. November 1639 – Beim Gilde

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 Es war kalt auf dem Markt heute Morgen, scharf wie eine Klinge auf der Haut. Der Nebel lag wie ein Tuch über den Ständen, und die Luft roch nach Ruß und altem Speck. Am Eingang der Fleischhalle stand ein Mann mit einem Beutel unter dem Arm, offensichtlich auf dem Rückweg von einer Prüfung, den Kopf gesenkt, die Schultern hochgezogen. Man erwartete mich — nicht aus Höflichkeit, sondern aus Notwendigkeit. Das Fleischschätzer-Gilde hatte einen Boten geschickt. Kein offizieller Brief, kein Siegel, nur eine mündliche Botschaft: „Der Meister will Euch sprechen. Es ist etwas mit dem Fleisch aus Langelsheim.“ Der Ton war nicht feindselig, aber auch nicht einladend. In der Gildestube saß Gildemeister Cordt Bäumer mit zwei anderen Männern, Brüdern im Amt, rund geworden vom Fleisch, das sie prüften. Sie saßen am Kamin, dampfende Krüge vor sich, die Augen auf mich gerichtet, als schnitte ich bereits. „Die Ware aus Langelsheim stinkt“, sagte Bäumer schroff. „Zu viele Innereien, zu weni...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 10. August 1639 – Jahrmarkt

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 Die Stadt summt vor Geräusch. Über das Pflaster der Breiten Straße rollen Wagen mit Weinfässern und Ballen aus Leinen. Der Geruch von gesalzenem Fisch mischt sich mit dem von frischem Brot und dem Ruß der Fackeln. Kinder rennen zwischen den Ständen hindurch, zerren an Ärmeln, lachen, schreien. Überall Geräusche: Rasseln, Hufgetrappel, das Rufen der Händler, der Gesang eines Blinden mit einer Drehleier. Ich ging mit gemessenem Schritt vom Rosentor zum Markt, meine Lederschürze sauber, das Messer verstaut, aber sichtbar an meiner Seite. So verlangt es der Rat — sichtbar, aber nicht benutzt. Meine Aufgabe heute: Aufsicht über Ordnung, Waagen und Würste. Am Stand des Fischhändlers bei der Rammelsberger Gasse blieb ich kurz stehen. Der Hering war frisch, das Fass schwer. Ich nickte und ging weiter. Beim Käsewagen der Witwe Hohmann stand eine Schlange. Ich sah, wie sie die Messer sorgfältig abwischte und das Leinentuch ordentlich faltete. Eine Frau mit ihrem Sohn entfernte sich hastig...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 22. Oktober 1638 – Werkzeuge

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 Die Luft roch nach nassem Laub und Rost. Der Herbst hatte sich tief in die Pflastersteine von Goslar eingenistet. In der Stadt schwebte Nebel zwischen den Fachwerkhäusern, doch in meiner Werkstatt am Rande des Rosenbergs war es trocken. Ich hatte das Feuer angefacht und die Werkzeuge bereitgelegt. Heute war Wartungstag. Keine Aufträge, keine Vorladungen, keine Befehle des Rates – nur ich, die Stille und meine Geräte. Zuerst das Langschwert. Es lag auf seinem Brett, in mit Öl getränktes Leinen gewickelt. Ich löste die Tücher, nahm es mit beiden Händen auf. Es fühlte sich vertraut an, wie der Hammer in der Hand eines Zimmermanns. Die Balance war noch gut. Die Schneide glänzte, doch ich wusste, dass immer Raum für Verbesserung bleibt. Mit dem Wetzstein zog ich langsam, geduldig, in langen Zügen. Das Schwert ist für den gnädigen Tod – die reine Enthauptung, wenn das Recht es befiehlt. Kein Schwung, kein Chaos. Ein Schlag. Eine Stille. Dann das Radmesser. Kurz, gebogen, gemacht, um ...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 3. Mai 1638 – Feuer

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 Der Himmel über Goslar flimmerte vor Trockenheit. Es war noch früh im Mai, doch der Wind trug Staub und Rauch mit sich. Seit Wochen war kein Regen gefallen, und die Stadt war dürr wie Pergament. Die Straßen hallten hohl unter meinen Stiefeln, als wollten selbst die Steine fliehen vor dem, was heute geschehen sollte. Gese Schraders. Vierzig Jahre alt. Tochter eines Webers, Witwe eines Brauers. Sie wohnte an der Gose, nahe der Brücke, in einem Haus, das nach Kräutern und Hefe roch. Ihr Name wehte schon lange durch das Flüstern der Stadt. Man sagte, Kühe würden lahm, wenn sie sie ansehe, Kinder bekämen Fieber, wenn sie deren Stirn salbte, und sie spreche bei Nacht mit Katzen. Ich hatte sie manchmal auf dem Markt gesehen, gebeugt, mit einem Korb voll Leinen am Arm. Keine Frau, die sich in Gespräche mischte. Keine Frau, die lachte. Ihre Verhaftung kam nicht überraschend. In den Kirchenbänken hörte ich ihren Namen seit Lichtmess flüstern. Als das Kind des Ratsmanns Witte an Krämpfen st...

Das Tagebuch des Caspar Kruse III, Scharfrichter: Goslar, 24. April 1638 – Die Hinrichtung – Zehn Körper, ein Feuer

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 Die Luft roch nach Lauge und Asche. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als ich mich ankleidete: der schwarze Rock, die Lederschürze, der Kragen aus grobem Leinen. Meine Frau Anna sagte nichts. Sie saß am Tisch mit gefalteten Händen, als bete sie. Doch ihre Augen waren trocken. Sie wusste, was heute war. Die Stadt schlief noch. Ich nicht. Die Knechte hatten die Nacht über auf dem Hochgericht gearbeitet, gleich außerhalb des Breiten Tors. Die Galgen waren gereinigt, der Scheiterhaufen aufgeschichtet, das Schwert geschliffen. Es gab zehn Verurteilte. Acht Frauen. Zwei Männer. Ich hatte ihre Stimmen gehört. Ihre Knochen gehalten. Ihre Träume verbrannt. Und nun war der Moment gekommen. I. Die Ankunft Die Glocken läuteten dreimal. Die Menge versammelte sich, gehüllt in Wolle und Schweigen. Kinder saßen auf den Schultern ihrer Väter. Mütter flüsterten Psalmen in die Ohren ihrer Töchter. Es waren Prediger da. Ratsmitglieder. Und stumme Männer mit Feuer in den Augen – kein Au...